Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

Jahrhunderten gethan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und
der Parteien verschwindet indeß dieser oberflächliche Schein, der den Klassen¬
kampf
und die eigenthümliche Physiognomie dieser Periode verschleiert.

Legitimisten und Orleanisten bildeten, wie gesagt, die zwei großen
Fraktionen der Ordnungspartei. Was diese Fraktionen an ihren Präten¬
denten festhielt, und sie wechselseitig auseinander hielt, war es nichts Andres,
als Lilie und Trikolore, Haus Bourbon und Haus Orleans, verschiedene
Schattirungen des Royalismus, war es überhaupt das Glaubensbekenntniß
des Royalismus? Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigen¬
thum
regiert mit seinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe
Finanz, die große Industrie, der große Handel, d. h. das Kapital mit
seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern. Das legitime
Königthum war blos der politische Ausdruck für die angestammte Herrschaft
der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie nur der politische
Ausdruck für die usurpirte Herrschaft der bürgerlichen Parvenüs. Was also
diese Fraktionen auseinander hielt, es waren keine sogenannten Prinzipien, es
waren ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigen¬
thums, es war der alte Gegensatz von Stadt und Land, die Rivalität zwischen
Kapital und Grundeigenthum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, persön¬
liche Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurtheile und Illusionen,
Sympathien und Antipathien, Ueberzeugungen, Glaubensartikel und Prin¬
zipien sie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es?
Auf den verschiedenen Formen des Eigenthums, auf den sozialen Existenzbe¬
dingungen, erhebt sich ein ganzer Ueberbau verschiedener und eigenthümlich
gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen.
Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen
heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das
einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen,
kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den
Ausgangspunkt seines Handelns bilden. Wenn Orleanisten, Legitimisten,
jede Fraktion sich selbst und der andern vorzureden suchte, daß die Anhäng¬
lichkeit an ihre zwei Königshäuser sie trenne, bewies später die Thatsache, daß
vielmehr ihr gespaltenes Interesse die Vereinigung der zwei Königshäuser
verbot. Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein
Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und thut, so
muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen

Jahrhunderten gethan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und
der Parteien verſchwindet indeß dieſer oberflächliche Schein, der den Klaſſen¬
kampf
und die eigenthümliche Phyſiognomie dieſer Periode verſchleiert.

Legitimiſten und Orleaniſten bildeten, wie geſagt, die zwei großen
Fraktionen der Ordnungspartei. Was dieſe Fraktionen an ihren Präten¬
denten feſthielt, und ſie wechſelſeitig auseinander hielt, war es nichts Andres,
als Lilie und Trikolore, Haus Bourbon und Haus Orleans, verſchiedene
Schattirungen des Royalismus, war es überhaupt das Glaubensbekenntniß
des Royalismus? Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigen¬
thum
regiert mit ſeinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe
Finanz, die große Induſtrie, der große Handel, d. h. das Kapital mit
ſeinem Gefolge von Advokaten, Profeſſoren und Schönrednern. Das legitime
Königthum war blos der politiſche Ausdruck für die angeſtammte Herrſchaft
der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie nur der politiſche
Ausdruck für die uſurpirte Herrſchaft der bürgerlichen Parvenüs. Was alſo
dieſe Fraktionen auseinander hielt, es waren keine ſogenannten Prinzipien, es
waren ihre materiellen Exiſtenzbedingungen, zwei verſchiedene Arten des Eigen¬
thums, es war der alte Gegenſatz von Stadt und Land, die Rivalität zwiſchen
Kapital und Grundeigenthum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, perſön¬
liche Feindſchaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurtheile und Illuſionen,
Sympathien und Antipathien, Ueberzeugungen, Glaubensartikel und Prin¬
zipien ſie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es?
Auf den verſchiedenen Formen des Eigenthums, auf den ſozialen Exiſtenzbe¬
dingungen, erhebt ſich ein ganzer Ueberbau verſchiedener und eigenthümlich
geſtalteter Empfindungen, Illuſionen, Denkweiſen und Lebensanſchauungen.
Die ganze Klaſſe ſchafft und geſtaltet ſie aus ihren materiellen Grundlagen
heraus und aus den entſprechenden geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Das
einzelne Individuum, dem ſie durch Tradition und Erziehung zufließen,
kann ſich einbilden, daß ſie die eigentlichen Beſtimmungsgründe und den
Ausgangspunkt ſeines Handelns bilden. Wenn Orleaniſten, Legitimiſten,
jede Fraktion ſich ſelbſt und der andern vorzureden ſuchte, daß die Anhäng¬
lichkeit an ihre zwei Königshäuſer ſie trenne, bewies ſpäter die Thatſache, daß
vielmehr ihr geſpaltenes Intereſſe die Vereinigung der zwei Königshäuſer
verbot. Und wie man im Privatleben unterſcheidet zwiſchen dem, was ein
Menſch von ſich meint und ſagt, und dem, was er wirklich iſt und thut, ſo
muß man noch mehr in geſchichtlichen Kämpfen die Phraſen und Einbildungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0038" n="26"/>
Jahrhunderten gethan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und<lb/>
der Parteien ver&#x017F;chwindet indeß die&#x017F;er oberflächliche Schein, der den <hi rendition="#g">Kla&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
kampf</hi> und die eigenthümliche Phy&#x017F;iognomie die&#x017F;er Periode ver&#x017F;chleiert.</p><lb/>
          <p>Legitimi&#x017F;ten und Orleani&#x017F;ten bildeten, wie ge&#x017F;agt, die zwei großen<lb/>
Fraktionen der Ordnungspartei. Was die&#x017F;e Fraktionen an ihren Präten¬<lb/>
denten fe&#x017F;thielt, und &#x017F;ie wech&#x017F;el&#x017F;eitig auseinander hielt, war es nichts Andres,<lb/>
als Lilie und Trikolore, Haus Bourbon und Haus Orleans, ver&#x017F;chiedene<lb/>
Schattirungen des Royalismus, war es überhaupt das Glaubensbekenntniß<lb/>
des Royalismus? Unter den Bourbonen hatte das <hi rendition="#g">große Grundeigen¬<lb/>
thum</hi> regiert mit &#x017F;einen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe<lb/>
Finanz, die große Indu&#x017F;trie, der große Handel, d. h. <hi rendition="#g">das Kapital</hi> mit<lb/>
&#x017F;einem Gefolge von Advokaten, Profe&#x017F;&#x017F;oren und Schönrednern. Das legitime<lb/>
Königthum war blos der politi&#x017F;che Ausdruck für die ange&#x017F;tammte Herr&#x017F;chaft<lb/>
der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie nur der politi&#x017F;che<lb/>
Ausdruck für die u&#x017F;urpirte Herr&#x017F;chaft der bürgerlichen Parvenüs. Was al&#x017F;o<lb/>
die&#x017F;e Fraktionen auseinander hielt, es waren keine &#x017F;ogenannten Prinzipien, es<lb/>
waren ihre materiellen Exi&#x017F;tenzbedingungen, zwei ver&#x017F;chiedene Arten des Eigen¬<lb/>
thums, es war der alte Gegen&#x017F;atz von Stadt und Land, die Rivalität zwi&#x017F;chen<lb/>
Kapital und Grundeigenthum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, per&#x017F;ön¬<lb/>
liche Feind&#x017F;chaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurtheile und Illu&#x017F;ionen,<lb/>
Sympathien und Antipathien, Ueberzeugungen, Glaubensartikel und Prin¬<lb/>
zipien &#x017F;ie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es?<lb/>
Auf den ver&#x017F;chiedenen Formen des Eigenthums, auf den &#x017F;ozialen Exi&#x017F;tenzbe¬<lb/>
dingungen, erhebt &#x017F;ich ein ganzer Ueberbau ver&#x017F;chiedener und eigenthümlich<lb/>
ge&#x017F;talteter Empfindungen, Illu&#x017F;ionen, Denkwei&#x017F;en und Lebensan&#x017F;chauungen.<lb/>
Die ganze Kla&#x017F;&#x017F;e &#x017F;chafft und ge&#x017F;taltet &#x017F;ie aus ihren materiellen Grundlagen<lb/>
heraus und aus den ent&#x017F;prechenden ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;en. Das<lb/>
einzelne Individuum, dem &#x017F;ie durch Tradition und Erziehung zufließen,<lb/>
kann &#x017F;ich einbilden, daß &#x017F;ie die eigentlichen Be&#x017F;timmungsgründe und den<lb/>
Ausgangspunkt &#x017F;eines Handelns bilden. Wenn Orleani&#x017F;ten, Legitimi&#x017F;ten,<lb/>
jede Fraktion &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und der andern vorzureden &#x017F;uchte, daß die Anhäng¬<lb/>
lichkeit an ihre zwei Königshäu&#x017F;er &#x017F;ie trenne, bewies &#x017F;päter die That&#x017F;ache, daß<lb/>
vielmehr ihr ge&#x017F;paltenes Intere&#x017F;&#x017F;e die Vereinigung der zwei Königshäu&#x017F;er<lb/>
verbot. Und wie man im Privatleben unter&#x017F;cheidet zwi&#x017F;chen dem, was ein<lb/>
Men&#x017F;ch von &#x017F;ich meint und &#x017F;agt, und dem, was er wirklich i&#x017F;t und thut, &#x017F;o<lb/>
muß man noch mehr in ge&#x017F;chichtlichen Kämpfen die Phra&#x017F;en und Einbildungen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0038] Jahrhunderten gethan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und der Parteien verſchwindet indeß dieſer oberflächliche Schein, der den Klaſſen¬ kampf und die eigenthümliche Phyſiognomie dieſer Periode verſchleiert. Legitimiſten und Orleaniſten bildeten, wie geſagt, die zwei großen Fraktionen der Ordnungspartei. Was dieſe Fraktionen an ihren Präten¬ denten feſthielt, und ſie wechſelſeitig auseinander hielt, war es nichts Andres, als Lilie und Trikolore, Haus Bourbon und Haus Orleans, verſchiedene Schattirungen des Royalismus, war es überhaupt das Glaubensbekenntniß des Royalismus? Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigen¬ thum regiert mit ſeinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe Finanz, die große Induſtrie, der große Handel, d. h. das Kapital mit ſeinem Gefolge von Advokaten, Profeſſoren und Schönrednern. Das legitime Königthum war blos der politiſche Ausdruck für die angeſtammte Herrſchaft der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie nur der politiſche Ausdruck für die uſurpirte Herrſchaft der bürgerlichen Parvenüs. Was alſo dieſe Fraktionen auseinander hielt, es waren keine ſogenannten Prinzipien, es waren ihre materiellen Exiſtenzbedingungen, zwei verſchiedene Arten des Eigen¬ thums, es war der alte Gegenſatz von Stadt und Land, die Rivalität zwiſchen Kapital und Grundeigenthum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, perſön¬ liche Feindſchaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurtheile und Illuſionen, Sympathien und Antipathien, Ueberzeugungen, Glaubensartikel und Prin¬ zipien ſie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es? Auf den verſchiedenen Formen des Eigenthums, auf den ſozialen Exiſtenzbe¬ dingungen, erhebt ſich ein ganzer Ueberbau verſchiedener und eigenthümlich geſtalteter Empfindungen, Illuſionen, Denkweiſen und Lebensanſchauungen. Die ganze Klaſſe ſchafft und geſtaltet ſie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entſprechenden geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Das einzelne Individuum, dem ſie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann ſich einbilden, daß ſie die eigentlichen Beſtimmungsgründe und den Ausgangspunkt ſeines Handelns bilden. Wenn Orleaniſten, Legitimiſten, jede Fraktion ſich ſelbſt und der andern vorzureden ſuchte, daß die Anhäng¬ lichkeit an ihre zwei Königshäuſer ſie trenne, bewies ſpäter die Thatſache, daß vielmehr ihr geſpaltenes Intereſſe die Vereinigung der zwei Königshäuſer verbot. Und wie man im Privatleben unterſcheidet zwiſchen dem, was ein Menſch von ſich meint und ſagt, und dem, was er wirklich iſt und thut, ſo muß man noch mehr in geſchichtlichen Kämpfen die Phraſen und Einbildungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/38
Zitationshilfe: Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/38>, abgerufen am 18.11.2024.