Das Bild der Weltkultur hat sich in den letzten 50 Jahren ungeheuer verändert, mit rasch zunehmender Schnelligkeit wirbelt alles durcheinander. Auf allen Gebieten werden Um- wertungen alter Werte versucht; verschlossene Erkenntnisgebiete haben sich geöffnet; mit neuen Mitteln dringen wir in unge- ahnte Welten ein. Die alten Formen, in denen unsre Vor- fahren ihr Denken, Glauben und Wollen für immer sicher zu halten glaubten, gleiten uns unter der Wucht und dem Wirbel der neuen Zeit unaufhaltsam aus den Händen, und viele zer- schellen auf dem harten Boden der neuen Wirklichkeiten vor unsern erstaunten, ja entsetzten Augen. Unter dem Krachen und Klirren der überlieferten Werte sucht alles sich vor dem furchtbaren Nichts zu retten, das auf uns zu lauern scheint.
"Wer ist, der uns Hilfe tu,daß wir Gnad erlangen?"
Der tobende Kampf ums geistige Dasein, um Wissen und Glauben, um Autorität und Freiheit, erinnert an ein Bild, das ich im Louvre mit erschütterter Seele sah. Die Sintflut ist hereingebrochen, ein Chaos von Menschen und Tieren kämpft in den Fluten den Todeskampf. Im Vordergrund ragt noch ein Felsblock empor, und auf seiner Platte steht ein alter Weidenstumpf. Ein Mann arbeitet sich hinauf, hat den Arm um einen Ast geschlungen, mit dem andern zieht er ein halb ohnmächtiges Weib mit einem kleinen Kinde an der Brust zu sich herauf. Aber man sieht, der Ast wird brechen unter der Last, im nächsten Augenblicke werden alle drei Menschen rettungslos zurücksinken. Ich habe stundenlang immer wieder vor dem Bilde gestanden in Angst und Hoffnung: wird's ge- lingen? oder wird das Verderben über den Köpfen zusammen- schlagen? Ich glaubte, den Ast krachen zu hören. Wie, wenn das Weib auch versucht hätte, mit den Wellen zu kämpfen und sich in die Höhe zu arbeiten, wenn es einen andern Ast zu ergreifen vermocht hätte, und beide hätten so gemeinsam
Das Bild der Weltkultur hat sich in den letzten 50 Jahren ungeheuer verändert, mit rasch zunehmender Schnelligkeit wirbelt alles durcheinander. Auf allen Gebieten werden Um- wertungen alter Werte versucht; verschlossene Erkenntnisgebiete haben sich geöffnet; mit neuen Mitteln dringen wir in unge- ahnte Welten ein. Die alten Formen, in denen unsre Vor- fahren ihr Denken, Glauben und Wollen für immer sicher zu halten glaubten, gleiten uns unter der Wucht und dem Wirbel der neuen Zeit unaufhaltsam aus den Händen, und viele zer- schellen auf dem harten Boden der neuen Wirklichkeiten vor unsern erstaunten, ja entsetzten Augen. Unter dem Krachen und Klirren der überlieferten Werte sucht alles sich vor dem furchtbaren Nichts zu retten, das auf uns zu lauern scheint.
„Wer ist, der uns Hilfe tu,daß wir Gnad erlangen?“
Der tobende Kampf ums geistige Dasein, um Wissen und Glauben, um Autorität und Freiheit, erinnert an ein Bild, das ich im Louvre mit erschütterter Seele sah. Die Sintflut ist hereingebrochen, ein Chaos von Menschen und Tieren kämpft in den Fluten den Todeskampf. Im Vordergrund ragt noch ein Felsblock empor, und auf seiner Platte steht ein alter Weidenstumpf. Ein Mann arbeitet sich hinauf, hat den Arm um einen Ast geschlungen, mit dem andern zieht er ein halb ohnmächtiges Weib mit einem kleinen Kinde an der Brust zu sich herauf. Aber man sieht, der Ast wird brechen unter der Last, im nächsten Augenblicke werden alle drei Menschen rettungslos zurücksinken. Ich habe stundenlang immer wieder vor dem Bilde gestanden in Angst und Hoffnung: wird's ge- lingen? oder wird das Verderben über den Köpfen zusammen- schlagen? Ich glaubte, den Ast krachen zu hören. Wie, wenn das Weib auch versucht hätte, mit den Wellen zu kämpfen und sich in die Höhe zu arbeiten, wenn es einen andern Ast zu ergreifen vermocht hätte, und beide hätten so gemeinsam
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Das Bild der Weltkultur hat sich in den letzten 50 Jahren
ungeheuer verändert, mit rasch zunehmender Schnelligkeit
wirbelt alles durcheinander. Auf allen Gebieten werden Um-
wertungen alter Werte versucht; verschlossene Erkenntnisgebiete
haben sich geöffnet; mit neuen Mitteln dringen wir in unge-
ahnte Welten ein. Die alten Formen, in denen unsre Vor-
fahren ihr Denken, Glauben und Wollen für immer sicher zu
halten glaubten, gleiten uns unter der Wucht und dem Wirbel
der neuen Zeit unaufhaltsam aus den Händen, und viele zer-
schellen auf dem harten Boden der neuen Wirklichkeiten vor
unsern erstaunten, ja entsetzten Augen. Unter dem Krachen
und Klirren der überlieferten Werte sucht alles sich vor dem
furchtbaren Nichts zu retten, das auf uns zu lauern scheint.
„Wer ist, der uns Hilfe tu, daß wir Gnad erlangen?“
Der tobende Kampf ums geistige Dasein, um Wissen und
Glauben, um Autorität und Freiheit, erinnert an ein Bild,
das ich im Louvre mit erschütterter Seele sah. Die Sintflut
ist hereingebrochen, ein Chaos von Menschen und Tieren kämpft
in den Fluten den Todeskampf. Im Vordergrund ragt noch
ein Felsblock empor, und auf seiner Platte steht ein alter
Weidenstumpf. Ein Mann arbeitet sich hinauf, hat den Arm
um einen Ast geschlungen, mit dem andern zieht er ein halb
ohnmächtiges Weib mit einem kleinen Kinde an der Brust zu
sich herauf. Aber man sieht, der Ast wird brechen unter der
Last, im nächsten Augenblicke werden alle drei Menschen
rettungslos zurücksinken. Ich habe stundenlang immer wieder
vor dem Bilde gestanden in Angst und Hoffnung: wird's ge-
lingen? oder wird das Verderben über den Köpfen zusammen-
schlagen? Ich glaubte, den Ast krachen zu hören. Wie,
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(2013-06-11T19:37:41Z)
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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/5>, abgerufen am 16.02.2025.
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