ständiger Frauenbildung voll gewonnen sei. Gott sei Dank, viele Eltern haben dieses Geistes von Natur schon einen Hauch verspürt, sonst wären wir ja hoffnungslos für unser Geschlecht. Die ersten 6 Lebensjahre des Kindes gehören dem Hause; welch kostbare Zeit, um in dem weichen, biegsamen Kinder- wesen die ersten Richtlinien für die Charakterentwickelung zu legen. Nicht "nur ein Mädchen", sondern "sogar ein Mäd- chen", eine zukünftige deutsche Frau, vielleicht eine zukünftige Mutter ist dem Hause anvertraut. Welche Verantwortung! Die Tochter soll für die Familie weder ein Spielball noch ein Sorgenstein sein und soll auch nicht so behandelt werden. Der Körper soll ohne Prüderie und den widerwärtigen, zierlichen Mädchenanstand gekräftigt werden. Klar und offen soll dem Mädchen wie dem Knaben die Welt als seine Welt liegen, in der es einst seinen Platz auszufüllen hat, wo es auch sei. Die Erziehung soll das Mädchen wie den Knaben von sich selbst ab in die reiche Umwelt führen; es ist für das Mädchen noch notwendiger wie für den Knaben, daß Eitelkeiten, Em- pfindlichkeiten -- und wie die Formen des kleinlichen Egoismus alle heißen -- mit Sorgfalt abgewehrt werden. Denn von Na- tur liegen die zukünftigen Lebensaufgaben, die aus der eigenen kleinen Welt herauslocken, vor dem Knaben klarer und ge- schlossener, vor dem Mädchen nebelhafter. Darum muß das Mädchen mit doppeltem sittlichem Ernst dazu erzogen werden, eine jede Aufgabe mit Wärme zu ergreifen und mit sittlichem Ernst und festem Willen durchzuführen: das wird erleichtert durch die weibliche Naturanlage, auch das Kleine und Kleinste mit Liebe und lebendigem Interesse zu ergreifen und mit per- sönlichem Eifer festzuhalten; obwohl das Wesen des Mädchens andrerseits bei seiner lebhafteren Gefühlsfärbung etwas Be- weglicheres, Unruhigeres hat als das geschlossenere Wesen des Knaben. Es gilt, das leicht erregbare Interesse des Mädchens von der eigenen Person abzuziehen und seinen Blick für das umgebende Leben zu schärfen. Sobald das Mädchen an etwas
ständiger Frauenbildung voll gewonnen sei. Gott sei Dank, viele Eltern haben dieses Geistes von Natur schon einen Hauch verspürt, sonst wären wir ja hoffnungslos für unser Geschlecht. Die ersten 6 Lebensjahre des Kindes gehören dem Hause; welch kostbare Zeit, um in dem weichen, biegsamen Kinder- wesen die ersten Richtlinien für die Charakterentwickelung zu legen. Nicht „nur ein Mädchen“, sondern „sogar ein Mäd- chen“, eine zukünftige deutsche Frau, vielleicht eine zukünftige Mutter ist dem Hause anvertraut. Welche Verantwortung! Die Tochter soll für die Familie weder ein Spielball noch ein Sorgenstein sein und soll auch nicht so behandelt werden. Der Körper soll ohne Prüderie und den widerwärtigen, zierlichen Mädchenanstand gekräftigt werden. Klar und offen soll dem Mädchen wie dem Knaben die Welt als seine Welt liegen, in der es einst seinen Platz auszufüllen hat, wo es auch sei. Die Erziehung soll das Mädchen wie den Knaben von sich selbst ab in die reiche Umwelt führen; es ist für das Mädchen noch notwendiger wie für den Knaben, daß Eitelkeiten, Em- pfindlichkeiten — und wie die Formen des kleinlichen Egoismus alle heißen — mit Sorgfalt abgewehrt werden. Denn von Na- tur liegen die zukünftigen Lebensaufgaben, die aus der eigenen kleinen Welt herauslocken, vor dem Knaben klarer und ge- schlossener, vor dem Mädchen nebelhafter. Darum muß das Mädchen mit doppeltem sittlichem Ernst dazu erzogen werden, eine jede Aufgabe mit Wärme zu ergreifen und mit sittlichem Ernst und festem Willen durchzuführen: das wird erleichtert durch die weibliche Naturanlage, auch das Kleine und Kleinste mit Liebe und lebendigem Interesse zu ergreifen und mit per- sönlichem Eifer festzuhalten; obwohl das Wesen des Mädchens andrerseits bei seiner lebhafteren Gefühlsfärbung etwas Be- weglicheres, Unruhigeres hat als das geschlossenere Wesen des Knaben. Es gilt, das leicht erregbare Interesse des Mädchens von der eigenen Person abzuziehen und seinen Blick für das umgebende Leben zu schärfen. Sobald das Mädchen an etwas
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ständiger Frauenbildung voll gewonnen sei. Gott sei Dank,
viele Eltern haben dieses Geistes von Natur schon einen Hauch
verspürt, sonst wären wir ja hoffnungslos für unser Geschlecht.
Die ersten 6 Lebensjahre des Kindes gehören dem Hause;
welch kostbare Zeit, um in dem weichen, biegsamen Kinder-
wesen die ersten Richtlinien für die Charakterentwickelung zu
legen. Nicht „nur ein Mädchen“, sondern „sogar ein Mäd-
chen“, eine zukünftige deutsche Frau, vielleicht eine zukünftige
Mutter ist dem Hause anvertraut. Welche Verantwortung!
Die Tochter soll für die Familie weder ein Spielball noch ein
Sorgenstein sein und soll auch nicht so behandelt werden. Der
Körper soll ohne Prüderie und den widerwärtigen, zierlichen
Mädchenanstand gekräftigt werden. Klar und offen soll dem
Mädchen wie dem Knaben die Welt als seine Welt liegen,
in der es einst seinen Platz auszufüllen hat, wo es auch sei.
Die Erziehung soll das Mädchen wie den Knaben von sich
selbst ab in die reiche Umwelt führen; es ist für das Mädchen
noch notwendiger wie für den Knaben, daß Eitelkeiten, Em-
pfindlichkeiten — und wie die Formen des kleinlichen Egoismus
alle heißen — mit Sorgfalt abgewehrt werden. Denn von Na-
tur liegen die zukünftigen Lebensaufgaben, die aus der eigenen
kleinen Welt herauslocken, vor dem Knaben klarer und ge-
schlossener, vor dem Mädchen nebelhafter. Darum muß das
Mädchen mit doppeltem sittlichem Ernst dazu erzogen werden,
eine jede Aufgabe mit Wärme zu ergreifen und mit sittlichem
Ernst und festem Willen durchzuführen: das wird erleichtert
durch die weibliche Naturanlage, auch das Kleine und Kleinste
mit Liebe und lebendigem Interesse zu ergreifen und mit per-
sönlichem Eifer festzuhalten; obwohl das Wesen des Mädchens
andrerseits bei seiner lebhafteren Gefühlsfärbung etwas Be-
weglicheres, Unruhigeres hat als das geschlossenere Wesen des
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription.
(2013-06-11T19:37:41Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2013-06-11T19:37:41Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate.
(2013-06-11T19:37:41Z)
Weitere Informationen:
Verfahrung der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/42>, abgerufen am 16.07.2024.
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