Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

Bild:
<< vorherige Seite

Erwachen zum Freiheitsbedürfnis ist auch nicht das Schlimme.
Das Schlimme ist nur, daß es so wenig Persönlich-
keiten gibt, die die Freiheit kraftvoll zu brau-
chen verstehen
. Daher dieses Rufen nach Persönlichkeiten,
wie nie vorher. Und da setzt die Mission der Frau ein. Wird
sie eine Freie, eine bewußte Persönlichkeit, dann wird sie die
kommenden Geschlechter lehren, ihre Freiheit gesund brauchen.
Es kann viel Kraft von den Frauen in einem Volk ausströmen.
Es ist kein Zufall, daß den Zerrbildern der Freiheit gegen-
über, mit denen sich das Volksleben füllt, immer bedrohlicher
die alten Mächte versuchen, mit der Peitsche der Autorität da-
zwischen zu fahren und falsche Freiheit durch Unfrei-
heit
zu bekämpfen. Blinde Blindenleiter! den Willen brechen,
statt den Willen stärken zu wollen, daß er, tapfrer wie der
Löwensieger und der Weltbezwinger, sich selbst bekämpfen
lernt! Woher kommt dieser gröbliche Mißgriff? Weil in der
Oeffentlichkeit die Stimme der Frau nicht mitklingt, nicht
mitzuklingen gelehrt ist.

"Denn die Männer sind heftig und denken nur immer das Letzte, Und das Hindernis treibt die Heftigen leicht von dem Wege; Aber ein Weib ist geschickt, auf Mittel zu denken, und wandelt Auch den Umweg, geschickt zu ihrem Zweck zu gelangen."

In dem Augenblick, wo wahrhaft gebildete Frauen-
persönlichkeiten
ihre Kräfte vollwertig mit einsetzen dürfen,
da wird unser Volk, gerade unser hoch veranlagtes deutsches
Volk, das edelste Wunder der Entwickelung erleben. Denn
es bedarf dieser Frauenkräfte, die es selbst brach liegen ge-
lassen hat, um zu werden, was es werden soll. Es bedarf
des Zuströmens der eminent weiblichen Gaben, um im Willen
wieder zu Blüte und in dem sittlichen Tun zu Frucht zu
kommen. Es sind die Kräfte der Hingabe, die ihm fehlen, be-
sonders der religiösen, quellenden Erneuerung formelhaft ge-
wordener Sitten. Wenn die Frauen energisch erzogen werden,
sich als "Herren aller Dinge und niemand untertan" zu be-

Erwachen zum Freiheitsbedürfnis ist auch nicht das Schlimme.
Das Schlimme ist nur, daß es so wenig Persönlich-
keiten gibt, die die Freiheit kraftvoll zu brau-
chen verstehen
. Daher dieses Rufen nach Persönlichkeiten,
wie nie vorher. Und da setzt die Mission der Frau ein. Wird
sie eine Freie, eine bewußte Persönlichkeit, dann wird sie die
kommenden Geschlechter lehren, ihre Freiheit gesund brauchen.
Es kann viel Kraft von den Frauen in einem Volk ausströmen.
Es ist kein Zufall, daß den Zerrbildern der Freiheit gegen-
über, mit denen sich das Volksleben füllt, immer bedrohlicher
die alten Mächte versuchen, mit der Peitsche der Autorität da-
zwischen zu fahren und falsche Freiheit durch Unfrei-
heit
zu bekämpfen. Blinde Blindenleiter! den Willen brechen,
statt den Willen stärken zu wollen, daß er, tapfrer wie der
Löwensieger und der Weltbezwinger, sich selbst bekämpfen
lernt! Woher kommt dieser gröbliche Mißgriff? Weil in der
Oeffentlichkeit die Stimme der Frau nicht mitklingt, nicht
mitzuklingen gelehrt ist.

„Denn die Männer sind heftig und denken nur immer das Letzte, Und das Hindernis treibt die Heftigen leicht von dem Wege; Aber ein Weib ist geschickt, auf Mittel zu denken, und wandelt Auch den Umweg, geschickt zu ihrem Zweck zu gelangen.“

In dem Augenblick, wo wahrhaft gebildete Frauen-
persönlichkeiten
ihre Kräfte vollwertig mit einsetzen dürfen,
da wird unser Volk, gerade unser hoch veranlagtes deutsches
Volk, das edelste Wunder der Entwickelung erleben. Denn
es bedarf dieser Frauenkräfte, die es selbst brach liegen ge-
lassen hat, um zu werden, was es werden soll. Es bedarf
des Zuströmens der eminent weiblichen Gaben, um im Willen
wieder zu Blüte und in dem sittlichen Tun zu Frucht zu
kommen. Es sind die Kräfte der Hingabe, die ihm fehlen, be-
sonders der religiösen, quellenden Erneuerung formelhaft ge-
wordener Sitten. Wenn die Frauen energisch erzogen werden,
sich als „Herren aller Dinge und niemand untertan“ zu be-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035" n="32"/>
Erwachen zum Freiheitsbedürfnis ist auch nicht das Schlimme.<lb/>
Das Schlimme ist nur, <hi rendition="#g">daß es so wenig Persönlich-<lb/>
keiten gibt, die die Freiheit kraftvoll zu brau-<lb/>
chen verstehen</hi>. Daher dieses Rufen nach Persönlichkeiten,<lb/>
wie nie vorher. Und da setzt die Mission der Frau ein. Wird<lb/><hi rendition="#g">sie eine Freie</hi>, eine bewußte Persönlichkeit, dann wird sie die<lb/>
kommenden Geschlechter lehren, ihre Freiheit gesund brauchen.<lb/>
Es kann viel Kraft von den Frauen in einem Volk ausströmen.<lb/>
Es ist kein Zufall, daß den Zerrbildern der Freiheit gegen-<lb/>
über, mit denen sich das Volksleben füllt, immer bedrohlicher<lb/>
die alten Mächte versuchen, mit der Peitsche der Autorität da-<lb/>
zwischen zu fahren und <hi rendition="#g">falsche Freiheit</hi> durch <hi rendition="#g">Unfrei-<lb/>
heit</hi> zu bekämpfen. Blinde Blindenleiter! den Willen brechen,<lb/>
statt den Willen stärken zu wollen, daß er, tapfrer wie der<lb/>
Löwensieger und der Weltbezwinger, sich selbst bekämpfen<lb/>
lernt! Woher kommt dieser gröbliche Mißgriff? Weil in der<lb/>
Oeffentlichkeit die Stimme der Frau nicht mitklingt, nicht<lb/>
mitzuklingen gelehrt ist.</p><lb/>
        <quote> <hi rendition="#c">
            <lg>
              <l>&#x201E;Denn die Männer sind heftig und denken nur immer das Letzte,</l>
              <l>Und das Hindernis treibt die Heftigen leicht von dem Wege;</l>
              <l>Aber ein Weib ist geschickt, auf Mittel zu denken, und wandelt</l>
              <l>Auch den Umweg, geschickt zu ihrem Zweck zu gelangen.&#x201C;</l>
            </lg>
          </hi> </quote><lb/>
        <p>In dem Augenblick, wo wahrhaft gebildete <hi rendition="#g">Frauen-<lb/>
persönlichkeiten</hi> ihre Kräfte vollwertig mit einsetzen dürfen,<lb/>
da wird unser Volk, gerade unser hoch veranlagtes deutsches<lb/>
Volk, das edelste Wunder der Entwickelung erleben. Denn<lb/>
es bedarf dieser Frauenkräfte, die es selbst brach liegen ge-<lb/>
lassen hat, um zu werden, was es werden soll. Es bedarf<lb/>
des Zuströmens der eminent weiblichen Gaben, um im Willen<lb/>
wieder zu Blüte und in dem sittlichen Tun zu Frucht zu<lb/>
kommen. Es sind die Kräfte der Hingabe, die ihm fehlen, be-<lb/>
sonders der religiösen, quellenden Erneuerung formelhaft ge-<lb/>
wordener Sitten. Wenn die Frauen energisch erzogen werden,<lb/>
sich als &#x201E;Herren aller Dinge und niemand untertan&#x201C; zu be-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0035] Erwachen zum Freiheitsbedürfnis ist auch nicht das Schlimme. Das Schlimme ist nur, daß es so wenig Persönlich- keiten gibt, die die Freiheit kraftvoll zu brau- chen verstehen. Daher dieses Rufen nach Persönlichkeiten, wie nie vorher. Und da setzt die Mission der Frau ein. Wird sie eine Freie, eine bewußte Persönlichkeit, dann wird sie die kommenden Geschlechter lehren, ihre Freiheit gesund brauchen. Es kann viel Kraft von den Frauen in einem Volk ausströmen. Es ist kein Zufall, daß den Zerrbildern der Freiheit gegen- über, mit denen sich das Volksleben füllt, immer bedrohlicher die alten Mächte versuchen, mit der Peitsche der Autorität da- zwischen zu fahren und falsche Freiheit durch Unfrei- heit zu bekämpfen. Blinde Blindenleiter! den Willen brechen, statt den Willen stärken zu wollen, daß er, tapfrer wie der Löwensieger und der Weltbezwinger, sich selbst bekämpfen lernt! Woher kommt dieser gröbliche Mißgriff? Weil in der Oeffentlichkeit die Stimme der Frau nicht mitklingt, nicht mitzuklingen gelehrt ist. „Denn die Männer sind heftig und denken nur immer das Letzte, Und das Hindernis treibt die Heftigen leicht von dem Wege; Aber ein Weib ist geschickt, auf Mittel zu denken, und wandelt Auch den Umweg, geschickt zu ihrem Zweck zu gelangen.“ In dem Augenblick, wo wahrhaft gebildete Frauen- persönlichkeiten ihre Kräfte vollwertig mit einsetzen dürfen, da wird unser Volk, gerade unser hoch veranlagtes deutsches Volk, das edelste Wunder der Entwickelung erleben. Denn es bedarf dieser Frauenkräfte, die es selbst brach liegen ge- lassen hat, um zu werden, was es werden soll. Es bedarf des Zuströmens der eminent weiblichen Gaben, um im Willen wieder zu Blüte und in dem sittlichen Tun zu Frucht zu kommen. Es sind die Kräfte der Hingabe, die ihm fehlen, be- sonders der religiösen, quellenden Erneuerung formelhaft ge- wordener Sitten. Wenn die Frauen energisch erzogen werden, sich als „Herren aller Dinge und niemand untertan“ zu be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-11T19:37:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-06-11T19:37:41Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate. (2013-06-11T19:37:41Z)

Weitere Informationen:

Verfahrung der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Druckfehler: dokumentiert
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert
  • Vollständigkeit: teilweise erfasst



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/35
Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/35>, abgerufen am 24.11.2024.