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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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Zwar wissen wir, daß alle Parteikämpfe, die lediglich auf
wirtschaftlichen Interessen beruhen, alle Völkerkämpfe um
Vormacht und Eroberungen stets unter den höchsten idealen
Redensarten, unter sittlichen Entrüstungen aller Art ausge-
fochten werden. Es sind ja auch nicht bloße Redensarten,
sondern von den Lebensinteressen des Ich aus färben sich alle
Vorstellungen des Individuums und der Völker. Aber trifft's
uns Frauen selbst, so empfinden wir diese Kampfesart bitter
als Unwahrheit, um so bitterer, als wir selbst doch nicht durch
äußere Machtmittel, sondern nur durch das sittliche Recht, die
ideale Wahrheit unsrer Forderungen siegen können. Irrtum
und Selbsttäuschung ist nun die Behauptung: man ver-
schlösse uns Bildungsberechtigungen und bestimmte Berufe aus
Sorge für unser Wohl, für unser weibliches Glück. Wäre
das Wahrheit, dann sähe die Welt anders aus. Dieser Vor-
wand ist darum so fadenscheinig, weil die Sorge um unsere
Ueberlastung oder um die Gefahr der Unweiblichkeit stets
vollkommen zusammenfällt mit der Konkurrenzgefahr. Wohl
muß man sich als Vater, Bruder, Onkel und Freund ent-
schließen, selbständige Berufe für die unverheiratete Frau zu
schaffen, und je enger die Beziehungen sind, um so günstiger
möchte man im Einzelfall den weiblichen Erwerb ausstatten.
Die unversorgten Töchter und Schwestern drücken schwer und
sind unbequem. Aber doch beweist sowohl die Wahl der zu-
lässigen Frauenberufe wie die Art der Berufsvorbildungsmög-
lichkeiten deutlich die hinter allem Spezialinteresse lauernde
Konkurrenzstellung. Denn die Frauenberufe werden nicht --
trotz aller Scheinphrasen -- sorgfältig, ritterlich ausgesucht für
das schwächere, im Lebenskampf hilflosere und ungewöhntere
Weib, nach dem entsprechenden Inhalt, den sie dem Frauen-
leben geben könnten, nach der Anpassung an ihre natürlichen
Anlagen; sondern ihre Billigung untersteht ganz andern Ge-
sichtspunkten. Man fragt praktisch: welche Berufe kann der
Mann am besten ohne Schaden entbehren? Der Schneider

Zwar wissen wir, daß alle Parteikämpfe, die lediglich auf
wirtschaftlichen Interessen beruhen, alle Völkerkämpfe um
Vormacht und Eroberungen stets unter den höchsten idealen
Redensarten, unter sittlichen Entrüstungen aller Art ausge-
fochten werden. Es sind ja auch nicht bloße Redensarten,
sondern von den Lebensinteressen des Ich aus färben sich alle
Vorstellungen des Individuums und der Völker. Aber trifft's
uns Frauen selbst, so empfinden wir diese Kampfesart bitter
als Unwahrheit, um so bitterer, als wir selbst doch nicht durch
äußere Machtmittel, sondern nur durch das sittliche Recht, die
ideale Wahrheit unsrer Forderungen siegen können. Irrtum
und Selbsttäuschung ist nun die Behauptung: man ver-
schlösse uns Bildungsberechtigungen und bestimmte Berufe aus
Sorge für unser Wohl, für unser weibliches Glück. Wäre
das Wahrheit, dann sähe die Welt anders aus. Dieser Vor-
wand ist darum so fadenscheinig, weil die Sorge um unsere
Ueberlastung oder um die Gefahr der Unweiblichkeit stets
vollkommen zusammenfällt mit der Konkurrenzgefahr. Wohl
muß man sich als Vater, Bruder, Onkel und Freund ent-
schließen, selbständige Berufe für die unverheiratete Frau zu
schaffen, und je enger die Beziehungen sind, um so günstiger
möchte man im Einzelfall den weiblichen Erwerb ausstatten.
Die unversorgten Töchter und Schwestern drücken schwer und
sind unbequem. Aber doch beweist sowohl die Wahl der zu-
lässigen Frauenberufe wie die Art der Berufsvorbildungsmög-
lichkeiten deutlich die hinter allem Spezialinteresse lauernde
Konkurrenzstellung. Denn die Frauenberufe werden nicht —
trotz aller Scheinphrasen — sorgfältig, ritterlich ausgesucht für
das schwächere, im Lebenskampf hilflosere und ungewöhntere
Weib, nach dem entsprechenden Inhalt, den sie dem Frauen-
leben geben könnten, nach der Anpassung an ihre natürlichen
Anlagen; sondern ihre Billigung untersteht ganz andern Ge-
sichtspunkten. Man fragt praktisch: welche Berufe kann der
Mann am besten ohne Schaden entbehren? Der Schneider

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[15/0018] Zwar wissen wir, daß alle Parteikämpfe, die lediglich auf wirtschaftlichen Interessen beruhen, alle Völkerkämpfe um Vormacht und Eroberungen stets unter den höchsten idealen Redensarten, unter sittlichen Entrüstungen aller Art ausge- fochten werden. Es sind ja auch nicht bloße Redensarten, sondern von den Lebensinteressen des Ich aus färben sich alle Vorstellungen des Individuums und der Völker. Aber trifft's uns Frauen selbst, so empfinden wir diese Kampfesart bitter als Unwahrheit, um so bitterer, als wir selbst doch nicht durch äußere Machtmittel, sondern nur durch das sittliche Recht, die ideale Wahrheit unsrer Forderungen siegen können. Irrtum und Selbsttäuschung ist nun die Behauptung: man ver- schlösse uns Bildungsberechtigungen und bestimmte Berufe aus Sorge für unser Wohl, für unser weibliches Glück. Wäre das Wahrheit, dann sähe die Welt anders aus. Dieser Vor- wand ist darum so fadenscheinig, weil die Sorge um unsere Ueberlastung oder um die Gefahr der Unweiblichkeit stets vollkommen zusammenfällt mit der Konkurrenzgefahr. Wohl muß man sich als Vater, Bruder, Onkel und Freund ent- schließen, selbständige Berufe für die unverheiratete Frau zu schaffen, und je enger die Beziehungen sind, um so günstiger möchte man im Einzelfall den weiblichen Erwerb ausstatten. Die unversorgten Töchter und Schwestern drücken schwer und sind unbequem. Aber doch beweist sowohl die Wahl der zu- lässigen Frauenberufe wie die Art der Berufsvorbildungsmög- lichkeiten deutlich die hinter allem Spezialinteresse lauernde Konkurrenzstellung. Denn die Frauenberufe werden nicht — trotz aller Scheinphrasen — sorgfältig, ritterlich ausgesucht für das schwächere, im Lebenskampf hilflosere und ungewöhntere Weib, nach dem entsprechenden Inhalt, den sie dem Frauen- leben geben könnten, nach der Anpassung an ihre natürlichen Anlagen; sondern ihre Billigung untersteht ganz andern Ge- sichtspunkten. Man fragt praktisch: welche Berufe kann der Mann am besten ohne Schaden entbehren? Der Schneider

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/18>, abgerufen am 24.11.2024.