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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Neunter Abschnitt.
Zweyte Fortsetzung der Anmerkungen über
die Kirnbergerschen Grundsätze, nach Ordnung
derselben.


§. 328.

Das merkwürdigste in diesem Abschnitt betrift eine ganz
neue Schöpfungsart gewisser Accorde.

Grundsätze, Seite 18. sqq. §. 11. "Wenn bey dem
"wesentlichen Septimenaccord die None vor der Octave vor-
"gehalten wird, und ihre Resolution erst auf der folgenden
"Harmonie geschicht, wie bey Fig. 123, so bleibet nach Weg-
"nehmung des Baßtons ein Septimenaccord übrig, der, da
"er wie der Septimenaccord der Dominante aus Terz, Quinte
"und Septime zusammengesetzt, und derselben Verwechselun-
"gen fähig ist, einige verleiten könnte, ihn für einen selbststän-
"digen Grundaccord zu halten."

Anmerk. 1) Ein Seprimenaccord, dessen None in
die Octave resolviret, ist ein Dreyklang, dessen Septime
in eine Sexte resolviret, folglich ein viereckigtes Dreyeck, oder
ein dreyeckigtes Viereck. Kann nach denen Begriffen, wodurch
wir einen Accord von dem andern unterscheiden, ein Accord zu
gleicher Zeit ein Septimen- und ein Nonenaccord, oder ein
Dreyklang und ein Septimenaccord seyn? Gewiß so wenig,
als ein Sextenaccord zu gleicher Zeit ein Quartquintenaccord
seyn kann, und umgekehrt. Es muß also der Gedanke des
Hrn. Kirnberger wohl rectificiret und dahin verändert werden,
wenn man ihn verstehen soll: "daß, wenn der Nonenaccord
"auf der Dominante eines Tons erst auf der folgenden verän-
"derten Baßnote seine Resolution erhält, so etc." 2) Der Hr.
Kirnberger lässet aus einem Nonenaccord einen Septi-
menaccord
entspringen. *) Wenn man den Ursprung des
allerersten Accords haben will, so muß man nach dieser Regel
alle sieben Töne unserer Leiter zuvörderst zusammensetzen, und

aus
*) Der Auctor wird also seinem auf den Aufhaltungsproceß gegründet
seyn sollenden System ungetreu. NB. An den Anticipationsproceß ist
nirgends gedacht worden.
U 2


Neunter Abſchnitt.
Zweyte Fortſetzung der Anmerkungen uͤber
die Kirnbergerſchen Grundſaͤtze, nach Ordnung
derſelben.


§. 328.

Das merkwuͤrdigſte in dieſem Abſchnitt betrift eine ganz
neue Schoͤpfungsart gewiſſer Accorde.

Grundſaͤtze, Seite 18. ſqq. §. 11. „Wenn bey dem
„weſentlichen Septimenaccord die None vor der Octave vor-
„gehalten wird, und ihre Reſolution erſt auf der folgenden
„Harmonie geſchicht, wie bey Fig. 123, ſo bleibet nach Weg-
„nehmung des Baßtons ein Septimenaccord uͤbrig, der, da
„er wie der Septimenaccord der Dominante aus Terz, Quinte
„und Septime zuſammengeſetzt, und derſelben Verwechſelun-
„gen faͤhig iſt, einige verleiten koͤnnte, ihn fuͤr einen ſelbſtſtaͤn-
„digen Grundaccord zu halten.‟

Anmerk. 1) Ein Seprimenaccord, deſſen None in
die Octave reſolviret, iſt ein Dreyklang, deſſen Septime
in eine Sexte reſolviret, folglich ein viereckigtes Dreyeck, oder
ein dreyeckigtes Viereck. Kann nach denen Begriffen, wodurch
wir einen Accord von dem andern unterſcheiden, ein Accord zu
gleicher Zeit ein Septimen- und ein Nonenaccord, oder ein
Dreyklang und ein Septimenaccord ſeyn? Gewiß ſo wenig,
als ein Sextenaccord zu gleicher Zeit ein Quartquintenaccord
ſeyn kann, und umgekehrt. Es muß alſo der Gedanke des
Hrn. Kirnberger wohl rectificiret und dahin veraͤndert werden,
wenn man ihn verſtehen ſoll: „daß, wenn der Nonenaccord
„auf der Dominante eines Tons erſt auf der folgenden veraͤn-
„derten Baßnote ſeine Reſolution erhaͤlt, ſo ꝛc.‟ 2) Der Hr.
Kirnberger laͤſſet aus einem Nonenaccord einen Septi-
menaccord
entſpringen. *) Wenn man den Urſprung des
allererſten Accords haben will, ſo muß man nach dieſer Regel
alle ſieben Toͤne unſerer Leiter zuvoͤrderſt zuſammenſetzen, und

aus
*) Der Auctor wird alſo ſeinem auf den Aufhaltungsproceß gegruͤndet
ſeyn ſollenden Syſtem ungetreu. NB. An den Anticipationsproceß iſt
nirgends gedacht worden.
U 2
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[307/0327] Neunter Abſchnitt. Zweyte Fortſetzung der Anmerkungen uͤber die Kirnbergerſchen Grundſaͤtze, nach Ordnung derſelben. §. 328. Das merkwuͤrdigſte in dieſem Abſchnitt betrift eine ganz neue Schoͤpfungsart gewiſſer Accorde. Grundſaͤtze, Seite 18. ſqq. §. 11. „Wenn bey dem „weſentlichen Septimenaccord die None vor der Octave vor- „gehalten wird, und ihre Reſolution erſt auf der folgenden „Harmonie geſchicht, wie bey Fig. 123, ſo bleibet nach Weg- „nehmung des Baßtons ein Septimenaccord uͤbrig, der, da „er wie der Septimenaccord der Dominante aus Terz, Quinte „und Septime zuſammengeſetzt, und derſelben Verwechſelun- „gen faͤhig iſt, einige verleiten koͤnnte, ihn fuͤr einen ſelbſtſtaͤn- „digen Grundaccord zu halten.‟ Anmerk. 1) Ein Seprimenaccord, deſſen None in die Octave reſolviret, iſt ein Dreyklang, deſſen Septime in eine Sexte reſolviret, folglich ein viereckigtes Dreyeck, oder ein dreyeckigtes Viereck. Kann nach denen Begriffen, wodurch wir einen Accord von dem andern unterſcheiden, ein Accord zu gleicher Zeit ein Septimen- und ein Nonenaccord, oder ein Dreyklang und ein Septimenaccord ſeyn? Gewiß ſo wenig, als ein Sextenaccord zu gleicher Zeit ein Quartquintenaccord ſeyn kann, und umgekehrt. Es muß alſo der Gedanke des Hrn. Kirnberger wohl rectificiret und dahin veraͤndert werden, wenn man ihn verſtehen ſoll: „daß, wenn der Nonenaccord „auf der Dominante eines Tons erſt auf der folgenden veraͤn- „derten Baßnote ſeine Reſolution erhaͤlt, ſo ꝛc.‟ 2) Der Hr. Kirnberger laͤſſet aus einem Nonenaccord einen Septi- menaccord entſpringen. *) Wenn man den Urſprung des allererſten Accords haben will, ſo muß man nach dieſer Regel alle ſieben Toͤne unſerer Leiter zuvoͤrderſt zuſammenſetzen, und aus *) Der Auctor wird alſo ſeinem auf den Aufhaltungsproceß gegruͤndet ſeyn ſollenden Syſtem ungetreu. NB. An den Anticipationsproceß iſt nirgends gedacht worden. U 2

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/327>, abgerufen am 25.11.2024.