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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Anhang etc. Sechster Abschnitt. Beweis,
Sätzen gemacht worden sind. Sollte wohl ein Tonstück von
der lezten Art möglich seyn, in welchem man nicht hin und
wieder die consonirenden Harmonien in dissonirende verwandeln
könnte? Es ist aber dieses so wenig der Zweck des Componisten
gewesen, so wenig ein anderer Musiker, welcher aus vermisch-
ten Con- und Dissonanzen ein Stück zusammengesetzet, die
Dissonanzen aus selbigem verbannet wissen wollte. -- Es
kann sich öfters zutragen, daß der Componist seinen General-
baß unrichtig zeichnet, z. E. bey Fig. 58. Hier sollte statt
des Quartsextenaccords der Terzquartenaccord über d stehen.
Dessen ungeachtet ist nicht der Septimenaccord g h d f, son-
dern der Dreyklang g h d der Grundbaß von dem mit 4 und 6
überschriebnen Generalbaßton d. Will der Extrahent des
Grundbasses den Septimenaccord g h d f zum Grundbaß
haben, so muß er zuvor den Generalbaß corrigiren, (welches
denn bey vielen Generalbässen öfters nöthig seyn mag,) und
den Quartsextenaccord in einen Terzquartenaccord verwandeln.
Weit anders als mit dem vorgebrachten harmonisch fehlerhaf-
ten Exempel verhält es sich mit den Exempeln bey Fig. 79. und
80. welche in ihrer Art richtig sind. Die Absicht des Compo-
nisten war, nichts als consonirende Accorde zu gebrauchen,
und er hat sie ohne den geringsten Fehler zu begehen, gebrau-
chet. Es fehlet nichts an der Harmonie; sie ist überall voll-
ständig. Hätte er bey Fig. 80. eine Dissonanz gebrauchen
wollen, so hätte es auf die Art, wie bey Fig. 81. besser, als
die Art wie vorhin geschehen können, und da wäre die
Grundharmonie wie bey Fig. 82. gewesen. -- Man wird
aus dem vorhergehenden zur Gnüge erkennen, daß die
Art der Fortschreitung in die Extrahirung eines Grundbasses
auf keinerley Art influiret, sondern daß lediglich die nach An-
leitung der ausgearbeiteten Stimmen in dem Generalbaß herr-
schende Harmonie die Folge und Art der Grundaccorde bestim-
met. Es ist mir die alte Regel der Dissonanzen ganz wohl be-
kannt: daß man eine Bindung anbringen soll, wo man
kann.
Wenn aber der Componist nun keine angebracht hat,
oder keine anbringen wollen, so kann weder der General- noch
Grundbaß eine angeben. Thut man das Gegentheil, so ver-
wirret man die ganze Lehre vom Grundbaß, und füllet sie mit

Wider-

Anhang ꝛc. Sechſter Abſchnitt. Beweis,
Saͤtzen gemacht worden ſind. Sollte wohl ein Tonſtuͤck von
der lezten Art moͤglich ſeyn, in welchem man nicht hin und
wieder die conſonirenden Harmonien in diſſonirende verwandeln
koͤnnte? Es iſt aber dieſes ſo wenig der Zweck des Componiſten
geweſen, ſo wenig ein anderer Muſiker, welcher aus vermiſch-
ten Con- und Diſſonanzen ein Stuͤck zuſammengeſetzet, die
Diſſonanzen aus ſelbigem verbannet wiſſen wollte. — Es
kann ſich oͤfters zutragen, daß der Componiſt ſeinen General-
baß unrichtig zeichnet, z. E. bey Fig. 58. Hier ſollte ſtatt
des Quartſextenaccords der Terzquartenaccord uͤber d ſtehen.
Deſſen ungeachtet iſt nicht der Septimenaccord g h d f, ſon-
dern der Dreyklang g h d der Grundbaß von dem mit 4 und 6
uͤberſchriebnen Generalbaßton d. Will der Extrahent des
Grundbaſſes den Septimenaccord g h d f zum Grundbaß
haben, ſo muß er zuvor den Generalbaß corrigiren, (welches
denn bey vielen Generalbaͤſſen oͤfters noͤthig ſeyn mag,) und
den Quartſextenaccord in einen Terzquartenaccord verwandeln.
Weit anders als mit dem vorgebrachten harmoniſch fehlerhaf-
ten Exempel verhaͤlt es ſich mit den Exempeln bey Fig. 79. und
80. welche in ihrer Art richtig ſind. Die Abſicht des Compo-
niſten war, nichts als conſonirende Accorde zu gebrauchen,
und er hat ſie ohne den geringſten Fehler zu begehen, gebrau-
chet. Es fehlet nichts an der Harmonie; ſie iſt uͤberall voll-
ſtaͤndig. Haͤtte er bey Fig. 80. eine Diſſonanz gebrauchen
wollen, ſo haͤtte es auf die Art, wie bey Fig. 81. beſſer, als
die Art wie vorhin geſchehen koͤnnen, und da waͤre die
Grundharmonie wie bey Fig. 82. geweſen. — Man wird
aus dem vorhergehenden zur Gnuͤge erkennen, daß die
Art der Fortſchreitung in die Extrahirung eines Grundbaſſes
auf keinerley Art influiret, ſondern daß lediglich die nach An-
leitung der ausgearbeiteten Stimmen in dem Generalbaß herr-
ſchende Harmonie die Folge und Art der Grundaccorde beſtim-
met. Es iſt mir die alte Regel der Diſſonanzen ganz wohl be-
kannt: daß man eine Bindung anbringen ſoll, wo man
kann.
Wenn aber der Componiſt nun keine angebracht hat,
oder keine anbringen wollen, ſo kann weder der General- noch
Grundbaß eine angeben. Thut man das Gegentheil, ſo ver-
wirret man die ganze Lehre vom Grundbaß, und fuͤllet ſie mit

Wider-
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[286/0306] Anhang ꝛc. Sechſter Abſchnitt. Beweis, Saͤtzen gemacht worden ſind. Sollte wohl ein Tonſtuͤck von der lezten Art moͤglich ſeyn, in welchem man nicht hin und wieder die conſonirenden Harmonien in diſſonirende verwandeln koͤnnte? Es iſt aber dieſes ſo wenig der Zweck des Componiſten geweſen, ſo wenig ein anderer Muſiker, welcher aus vermiſch- ten Con- und Diſſonanzen ein Stuͤck zuſammengeſetzet, die Diſſonanzen aus ſelbigem verbannet wiſſen wollte. — Es kann ſich oͤfters zutragen, daß der Componiſt ſeinen General- baß unrichtig zeichnet, z. E. bey Fig. 58. Hier ſollte ſtatt des Quartſextenaccords der Terzquartenaccord uͤber d ſtehen. Deſſen ungeachtet iſt nicht der Septimenaccord g h d f, ſon- dern der Dreyklang g h d der Grundbaß von dem mit 4 und 6 uͤberſchriebnen Generalbaßton d. Will der Extrahent des Grundbaſſes den Septimenaccord g h d f zum Grundbaß haben, ſo muß er zuvor den Generalbaß corrigiren, (welches denn bey vielen Generalbaͤſſen oͤfters noͤthig ſeyn mag,) und den Quartſextenaccord in einen Terzquartenaccord verwandeln. Weit anders als mit dem vorgebrachten harmoniſch fehlerhaf- ten Exempel verhaͤlt es ſich mit den Exempeln bey Fig. 79. und 80. welche in ihrer Art richtig ſind. Die Abſicht des Compo- niſten war, nichts als conſonirende Accorde zu gebrauchen, und er hat ſie ohne den geringſten Fehler zu begehen, gebrau- chet. Es fehlet nichts an der Harmonie; ſie iſt uͤberall voll- ſtaͤndig. Haͤtte er bey Fig. 80. eine Diſſonanz gebrauchen wollen, ſo haͤtte es auf die Art, wie bey Fig. 81. beſſer, als die Art wie vorhin geſchehen koͤnnen, und da waͤre die Grundharmonie wie bey Fig. 82. geweſen. — Man wird aus dem vorhergehenden zur Gnuͤge erkennen, daß die Art der Fortſchreitung in die Extrahirung eines Grundbaſſes auf keinerley Art influiret, ſondern daß lediglich die nach An- leitung der ausgearbeiteten Stimmen in dem Generalbaß herr- ſchende Harmonie die Folge und Art der Grundaccorde beſtim- met. Es iſt mir die alte Regel der Diſſonanzen ganz wohl be- kannt: daß man eine Bindung anbringen ſoll, wo man kann. Wenn aber der Componiſt nun keine angebracht hat, oder keine anbringen wollen, ſo kann weder der General- noch Grundbaß eine angeben. Thut man das Gegentheil, ſo ver- wirret man die ganze Lehre vom Grundbaß, und fuͤllet ſie mit Wider-

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/306>, abgerufen am 23.11.2024.