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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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daß der Kirnberg. Grundbaß kein reiner Grundb. re.
der Septime, angegeben worden. Was folget aus allem diesen?
Dieses, daß der Grundbaß des Hrn. Kirnbergers kein reiner
Grundbaß, sondern ein Jnterpolirbaß ist. Der reine Grundbaß
kann nemlich nicht mehr oder weniger enthalten, als in den aus-
gearbeiteten Stimmen enthalten ist, und ist nur auf eine ein-
zige Art möglich. Es ist damit wie mit dem Jnhalt eines
Buchs beschaffen, welcher so wenig ein Capitel angeben
muß, das nicht darinnen besindlich ist, als ein darinnen
befindliches auslassen; und es müssen annoch in selbigem die
Capitel in derjenigen Folge hintereinander dargeleget werden,
als sie das Buch würklich giebet, nicht so wie sie gegeben wer-
den könnten, es mag diese Folge ordentlich oder unordentlich
seyn. Der Jnhalt soll nemlich nichts mehr als die Materia-
lien des Buchs in ihrer Ordnung darlegen.

§. 303.

Es ist oben im §. 246 gesaget worden, daß, da der Grund-
baß keine ausgearbeitete Stimme machen soll, in selbigem auf
die Fortschreitung der Grundaccorde unter sich, sie mag regu-
lär oder irregulär seyn, kein Bedacht genommen werden muß,
und der Fall ist hier. Wer nicht durch eine irreguläre Pro-
greßion des Grundbasses beleidiget werden will, darf ja nur
an allen Oertern, wo sich solche Progreßionen finden, jeden fol-
genden Grundaccord von dem vorhergehenden durch einen
Doppelstrich oder ein ander Zeichen unterscheiden, und dadurch
den Zusammenhang einer Grundnote mit der andern aufheben.
Der Hr. Kirnberger saget in einer Note Seite 115. der
Grundsätze: "Wir trauen unsern Lesern wenigstens so viele
"Kenntnisse oder Begriffe von Grundharmonien zu, daß sie
"die Quinten und Octaven, oder andere unharmonische und
"verbotne Fortschreitungen, die in dem Grundbaß und den
"ausgearbeiteten Stimmen vorkommen, nicht anstößig finden
"werden." Man wende diese Erinnerung auf die unharmo-
nische und verbotne Fortschreitungen im Grundbaß an. Die
Regeln der Harmonie sind ja nicht für den Grundbaß gemacht,
welcher nichts als die rohen Materialien einer Composition,
ohne die geringste Erweiterung oder Einschränkung, darlegen
soll, sondern für den Generalbaß, welcher die Materialien des
Satzes ordnen, und bearbeiten muß. Wenn der General-

baß
S 3

daß der Kirnberg. Grundbaß kein reiner Grundb. ꝛe.
der Septime, angegeben worden. Was folget aus allem dieſen?
Dieſes, daß der Grundbaß des Hrn. Kirnbergers kein reiner
Grundbaß, ſondern ein Jnterpolirbaß iſt. Der reine Grundbaß
kann nemlich nicht mehr oder weniger enthalten, als in den aus-
gearbeiteten Stimmen enthalten iſt, und iſt nur auf eine ein-
zige Art moͤglich. Es iſt damit wie mit dem Jnhalt eines
Buchs beſchaffen, welcher ſo wenig ein Capitel angeben
muß, das nicht darinnen beſindlich iſt, als ein darinnen
befindliches auslaſſen; und es muͤſſen annoch in ſelbigem die
Capitel in derjenigen Folge hintereinander dargeleget werden,
als ſie das Buch wuͤrklich giebet, nicht ſo wie ſie gegeben wer-
den koͤnnten, es mag dieſe Folge ordentlich oder unordentlich
ſeyn. Der Jnhalt ſoll nemlich nichts mehr als die Materia-
lien des Buchs in ihrer Ordnung darlegen.

§. 303.

Es iſt oben im §. 246 geſaget worden, daß, da der Grund-
baß keine ausgearbeitete Stimme machen ſoll, in ſelbigem auf
die Fortſchreitung der Grundaccorde unter ſich, ſie mag regu-
laͤr oder irregulaͤr ſeyn, kein Bedacht genommen werden muß,
und der Fall iſt hier. Wer nicht durch eine irregulaͤre Pro-
greßion des Grundbaſſes beleidiget werden will, darf ja nur
an allen Oertern, wo ſich ſolche Progreßionen finden, jeden fol-
genden Grundaccord von dem vorhergehenden durch einen
Doppelſtrich oder ein ander Zeichen unterſcheiden, und dadurch
den Zuſammenhang einer Grundnote mit der andern aufheben.
Der Hr. Kirnberger ſaget in einer Note Seite 115. der
Grundſaͤtze: „Wir trauen unſern Leſern wenigſtens ſo viele
„Kenntniſſe oder Begriffe von Grundharmonien zu, daß ſie
„die Quinten und Octaven, oder andere unharmoniſche und
„verbotne Fortſchreitungen, die in dem Grundbaß und den
„ausgearbeiteten Stimmen vorkommen, nicht anſtoͤßig finden
„werden.‟ Man wende dieſe Erinnerung auf die unharmo-
niſche und verbotne Fortſchreitungen im Grundbaß an. Die
Regeln der Harmonie ſind ja nicht fuͤr den Grundbaß gemacht,
welcher nichts als die rohen Materialien einer Compoſition,
ohne die geringſte Erweiterung oder Einſchraͤnkung, darlegen
ſoll, ſondern fuͤr den Generalbaß, welcher die Materialien des
Satzes ordnen, und bearbeiten muß. Wenn der General-

baß
S 3
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[277/0297] daß der Kirnberg. Grundbaß kein reiner Grundb. ꝛe. der Septime, angegeben worden. Was folget aus allem dieſen? Dieſes, daß der Grundbaß des Hrn. Kirnbergers kein reiner Grundbaß, ſondern ein Jnterpolirbaß iſt. Der reine Grundbaß kann nemlich nicht mehr oder weniger enthalten, als in den aus- gearbeiteten Stimmen enthalten iſt, und iſt nur auf eine ein- zige Art moͤglich. Es iſt damit wie mit dem Jnhalt eines Buchs beſchaffen, welcher ſo wenig ein Capitel angeben muß, das nicht darinnen beſindlich iſt, als ein darinnen befindliches auslaſſen; und es muͤſſen annoch in ſelbigem die Capitel in derjenigen Folge hintereinander dargeleget werden, als ſie das Buch wuͤrklich giebet, nicht ſo wie ſie gegeben wer- den koͤnnten, es mag dieſe Folge ordentlich oder unordentlich ſeyn. Der Jnhalt ſoll nemlich nichts mehr als die Materia- lien des Buchs in ihrer Ordnung darlegen. §. 303. Es iſt oben im §. 246 geſaget worden, daß, da der Grund- baß keine ausgearbeitete Stimme machen ſoll, in ſelbigem auf die Fortſchreitung der Grundaccorde unter ſich, ſie mag regu- laͤr oder irregulaͤr ſeyn, kein Bedacht genommen werden muß, und der Fall iſt hier. Wer nicht durch eine irregulaͤre Pro- greßion des Grundbaſſes beleidiget werden will, darf ja nur an allen Oertern, wo ſich ſolche Progreßionen finden, jeden fol- genden Grundaccord von dem vorhergehenden durch einen Doppelſtrich oder ein ander Zeichen unterſcheiden, und dadurch den Zuſammenhang einer Grundnote mit der andern aufheben. Der Hr. Kirnberger ſaget in einer Note Seite 115. der Grundſaͤtze: „Wir trauen unſern Leſern wenigſtens ſo viele „Kenntniſſe oder Begriffe von Grundharmonien zu, daß ſie „die Quinten und Octaven, oder andere unharmoniſche und „verbotne Fortſchreitungen, die in dem Grundbaß und den „ausgearbeiteten Stimmen vorkommen, nicht anſtoͤßig finden „werden.‟ Man wende dieſe Erinnerung auf die unharmo- niſche und verbotne Fortſchreitungen im Grundbaß an. Die Regeln der Harmonie ſind ja nicht fuͤr den Grundbaß gemacht, welcher nichts als die rohen Materialien einer Compoſition, ohne die geringſte Erweiterung oder Einſchraͤnkung, darlegen ſoll, ſondern fuͤr den Generalbaß, welcher die Materialien des Satzes ordnen, und bearbeiten muß. Wenn der General- baß S 3

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/297>, abgerufen am 25.11.2024.