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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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ansehen. 3) Wer sich wundern wollte, daß in dem gegebnen
Generalbaß c g a auf den Septimenaccord der Dominante g
nicht ein Schluß in c erfolget, der müßte der Meinung seyn,
daß man von einer mit dem Septimenaccord accompagnirten
Dominante beständig zur Tonica zurückgehen und lauter voll-
kommne Schlüsse machen müßte, wie z. E. bey Fig. 59.
Bevor man sich nun mit einem dergestalt speculirenden Musi-
ker über diese Materie in ein ernsthaftes Gespräch einliesse,
müßte man ihn ersuchen, über die ästhetischen Regeln der Har-
monie und Melodie, besonders in Absicht auf die Mannigfal-
tigkeit, über die Modulation, über die verschiednen Arten der
Cadenzen, über die verschiednen Arten der Grundfortschreitung,
über die verschiednen Arten der Auflösung eben derselben Dis-
sonanz u. s. w. zuvörderst sein Glaubensbekenntniß abzulegen.

§. 289.

Zweyte und lezte Fortsetzung des Artikels vom
Fundamentalbaß.
"Wer nur einigermassen mit den wah-
"ren Regeln der Harmonie bekannt ist, hat selten nöthig, daß
"ihm dieselbe erst durch einen Fundamentalbaß erläutert werde.
"Daher kömmt es, daß in Deutschland und Jtalien des Fun-
"damentalbasses ehedem nie, und noch itzt selten gedacht wird,
"ob man gleich oft von der Grundharmonie spricht. Ra-
"meau
hat zuerst einen geschriebnen Fundamentalbaß einge-
"führet; daher seine Landesleute ihn für den Erfinder dessel-
"ben ausgeben. Einige derselben sind so unwissend, daß sie
"mit lächerlicher Dreistigkeit vorgeben: Rameau habe die Wis-
"senschaft der Harmonie, die vor ihm sehr ungewiß gewesen,
"zuerst auf Grundsätze zurückgeführet, und zuerst gezeiget,
"daß gewisse Accorde keine wahre Grundaccorde seyn. Diese
"Leute müssen also nicht wissen, daß die Wissenschaft des dop-
"pelten Contrapuncts, die viel italienische und deutsche Ton-
"setzer unendlich besser als Rameau verstanden haben, schlech-
"terdings auf diese Kenntniß der Grundharmonien gebauet
"sey, indem es im doppelten Contrapunct unmöglich ist, nur
"einen Tact ohne die Verwechselung der Accorde zu setzen.
"Was also mehr als hundert Jahre vor Rameau alle gute
"Tonsetzer gewußt und täglich ausgeübet haben, hat, dieser

"wun-

des Artikels vom Fundamentalbaß in der Sulz. ꝛc.
anſehen. 3) Wer ſich wundern wollte, daß in dem gegebnen
Generalbaß c g a auf den Septimenaccord der Dominante g
nicht ein Schluß in c erfolget, der muͤßte der Meinung ſeyn,
daß man von einer mit dem Septimenaccord accompagnirten
Dominante beſtaͤndig zur Tonica zuruͤckgehen und lauter voll-
kommne Schluͤſſe machen muͤßte, wie z. E. bey Fig. 59.
Bevor man ſich nun mit einem dergeſtalt ſpeculirenden Muſi-
ker uͤber dieſe Materie in ein ernſthaftes Geſpraͤch einlieſſe,
muͤßte man ihn erſuchen, uͤber die aͤſthetiſchen Regeln der Har-
monie und Melodie, beſonders in Abſicht auf die Mannigfal-
tigkeit, uͤber die Modulation, uͤber die verſchiednen Arten der
Cadenzen, uͤber die verſchiednen Arten der Grundfortſchreitung,
uͤber die verſchiednen Arten der Aufloͤſung eben derſelben Diſ-
ſonanz u. ſ. w. zuvoͤrderſt ſein Glaubensbekenntniß abzulegen.

§. 289.

Zweyte und lezte Fortſetzung des Artikels vom
Fundamentalbaß.
„Wer nur einigermaſſen mit den wah-
„ren Regeln der Harmonie bekannt iſt, hat ſelten noͤthig, daß
„ihm dieſelbe erſt durch einen Fundamentalbaß erlaͤutert werde.
„Daher koͤmmt es, daß in Deutſchland und Jtalien des Fun-
„damentalbaſſes ehedem nie, und noch itzt ſelten gedacht wird,
„ob man gleich oft von der Grundharmonie ſpricht. Ra-
„meau
hat zuerſt einen geſchriebnen Fundamentalbaß einge-
„fuͤhret; daher ſeine Landesleute ihn fuͤr den Erfinder deſſel-
„ben ausgeben. Einige derſelben ſind ſo unwiſſend, daß ſie
„mit laͤcherlicher Dreiſtigkeit vorgeben: Rameau habe die Wiſ-
„ſenſchaft der Harmonie, die vor ihm ſehr ungewiß geweſen,
„zuerſt auf Grundſaͤtze zuruͤckgefuͤhret, und zuerſt gezeiget,
„daß gewiſſe Accorde keine wahre Grundaccorde ſeyn. Dieſe
„Leute muͤſſen alſo nicht wiſſen, daß die Wiſſenſchaft des dop-
„pelten Contrapuncts, die viel italieniſche und deutſche Ton-
„ſetzer unendlich beſſer als Rameau verſtanden haben, ſchlech-
„terdings auf dieſe Kenntniß der Grundharmonien gebauet
„ſey, indem es im doppelten Contrapunct unmoͤglich iſt, nur
„einen Tact ohne die Verwechſelung der Accorde zu ſetzen.
„Was alſo mehr als hundert Jahre vor Rameau alle gute
„Tonſetzer gewußt und taͤglich ausgeuͤbet haben, hat, dieſer

„wun-
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[267/0287] des Artikels vom Fundamentalbaß in der Sulz. ꝛc. anſehen. 3) Wer ſich wundern wollte, daß in dem gegebnen Generalbaß c g a auf den Septimenaccord der Dominante g nicht ein Schluß in c erfolget, der muͤßte der Meinung ſeyn, daß man von einer mit dem Septimenaccord accompagnirten Dominante beſtaͤndig zur Tonica zuruͤckgehen und lauter voll- kommne Schluͤſſe machen muͤßte, wie z. E. bey Fig. 59. Bevor man ſich nun mit einem dergeſtalt ſpeculirenden Muſi- ker uͤber dieſe Materie in ein ernſthaftes Geſpraͤch einlieſſe, muͤßte man ihn erſuchen, uͤber die aͤſthetiſchen Regeln der Har- monie und Melodie, beſonders in Abſicht auf die Mannigfal- tigkeit, uͤber die Modulation, uͤber die verſchiednen Arten der Cadenzen, uͤber die verſchiednen Arten der Grundfortſchreitung, uͤber die verſchiednen Arten der Aufloͤſung eben derſelben Diſ- ſonanz u. ſ. w. zuvoͤrderſt ſein Glaubensbekenntniß abzulegen. §. 289. Zweyte und lezte Fortſetzung des Artikels vom Fundamentalbaß. „Wer nur einigermaſſen mit den wah- „ren Regeln der Harmonie bekannt iſt, hat ſelten noͤthig, daß „ihm dieſelbe erſt durch einen Fundamentalbaß erlaͤutert werde. „Daher koͤmmt es, daß in Deutſchland und Jtalien des Fun- „damentalbaſſes ehedem nie, und noch itzt ſelten gedacht wird, „ob man gleich oft von der Grundharmonie ſpricht. Ra- „meau hat zuerſt einen geſchriebnen Fundamentalbaß einge- „fuͤhret; daher ſeine Landesleute ihn fuͤr den Erfinder deſſel- „ben ausgeben. Einige derſelben ſind ſo unwiſſend, daß ſie „mit laͤcherlicher Dreiſtigkeit vorgeben: Rameau habe die Wiſ- „ſenſchaft der Harmonie, die vor ihm ſehr ungewiß geweſen, „zuerſt auf Grundſaͤtze zuruͤckgefuͤhret, und zuerſt gezeiget, „daß gewiſſe Accorde keine wahre Grundaccorde ſeyn. Dieſe „Leute muͤſſen alſo nicht wiſſen, daß die Wiſſenſchaft des dop- „pelten Contrapuncts, die viel italieniſche und deutſche Ton- „ſetzer unendlich beſſer als Rameau verſtanden haben, ſchlech- „terdings auf dieſe Kenntniß der Grundharmonien gebauet „ſey, indem es im doppelten Contrapunct unmoͤglich iſt, nur „einen Tact ohne die Verwechſelung der Accorde zu ſetzen. „Was alſo mehr als hundert Jahre vor Rameau alle gute „Tonſetzer gewußt und taͤglich ausgeuͤbet haben, hat, dieſer „wun-

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/287>, abgerufen am 25.11.2024.