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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Anhang etc. Zweyter Abschnitt.
3) daß man diese Zusammensetzungen wiederum, wo nicht
ganz, doch zum Theil oder verkürzt umkehret, und also
die harmonische Materie aufs neue umformet, um ver-
mittelst dieses Processes alles, was in der Harmonie
schicklich ist, zu entwickeln.
§. 276.

Die Ursache der angezeigten Weglassung ist, weil von ver-
schiednen Musikern die Frage aufgeworfen worden ist: ob,
da die Zusammensetzung der Töne unstreitig ihre Grän-
zen haben muß, nicht allhier, wo die Zusammense-
tzung mit den eingeschalteten Terzen anfänget, diese
Gränzen zu bestimmen sind?
Bey solcher Verschiedenheit
der Meinungen unserer Musiker über die Gültigkeit dieses oder
jenen Accords, habe ich es für unnöthig gehalten, die Lehre
vom Grundbaß weiter als bis auf die bekanntern Accorde aus-
zudehnen. Wie man sich weiter über diese Sphäre hinaus-
schwingen könne, ist in der ersten Edition meines Hand-
buchs
etc. von 1755 gezeiget worden. Jch habe aber, in
der zweyten Edition dieses Werks vom Jahre 1762, diese Ver-
suche wieder weggelassen, theils weil die vorhin dargelegte
Frage von einigen Musikern erreget worden war, theils weil
mir selbst verschiedene dieser Versuche, weder an sich noch in
Absicht auf ihre Behandlung, nach der Zeit mehr gefielen.
Jtzo erlauben es meine andern Geschäfte nicht, diese Materie
aufs neue und bis zur Gewißheit zu bearbeiten, und ich wün-
sche bloß, daß es dem Herrn Kirnberger gefallen möge, (es
würde die gemeinnützigste Beschäftigung seyn, welcher sich der-
selbe unterziehen könnte,) die im §. 258. geäusserten zwey De-
sideria tabellarisch ohne viele andere Weitläuftigkeit zu erfüllen,
und bey dieser Gelegenheit zwischen der gewöhnlichen und un-
gewöhnlichern Harmonie die Gränzen zu ziehen. Denn dieses ist
einmal gewiß, daß nicht alle zusammengesetzte ungewöhnliche
Accorde in eine jede Schreibart, und daß sie auch mit gehöri-
ger Einschränkung nur in die Jnstrumentalmusik, im gering-
sten aber nicht in die Vocalmusik gehören, wo viele der-
selben dem tonfestesten Chor verunglücken würden. Der-
jenige Harmonist, welcher sich durch unbekanntere
Sätze von allen andern unterscheidet, ist unstreitig der be-

rühmte
Anhang ꝛc. Zweyter Abſchnitt.
3) daß man dieſe Zuſammenſetzungen wiederum, wo nicht
ganz, doch zum Theil oder verkuͤrzt umkehret, und alſo
die harmoniſche Materie aufs neue umformet, um ver-
mittelſt dieſes Proceſſes alles, was in der Harmonie
ſchicklich iſt, zu entwickeln.
§. 276.

Die Urſache der angezeigten Weglaſſung iſt, weil von ver-
ſchiednen Muſikern die Frage aufgeworfen worden iſt: ob,
da die Zuſammenſetzung der Toͤne unſtreitig ihre Graͤn-
zen haben muß, nicht allhier, wo die Zuſammenſe-
tzung mit den eingeſchalteten Terzen anfaͤnget, dieſe
Graͤnzen zu beſtimmen ſind?
Bey ſolcher Verſchiedenheit
der Meinungen unſerer Muſiker uͤber die Guͤltigkeit dieſes oder
jenen Accords, habe ich es fuͤr unnoͤthig gehalten, die Lehre
vom Grundbaß weiter als bis auf die bekanntern Accorde aus-
zudehnen. Wie man ſich weiter uͤber dieſe Sphaͤre hinaus-
ſchwingen koͤnne, iſt in der erſten Edition meines Hand-
buchs
ꝛc. von 1755 gezeiget worden. Jch habe aber, in
der zweyten Edition dieſes Werks vom Jahre 1762, dieſe Ver-
ſuche wieder weggelaſſen, theils weil die vorhin dargelegte
Frage von einigen Muſikern erreget worden war, theils weil
mir ſelbſt verſchiedene dieſer Verſuche, weder an ſich noch in
Abſicht auf ihre Behandlung, nach der Zeit mehr gefielen.
Jtzo erlauben es meine andern Geſchaͤfte nicht, dieſe Materie
aufs neue und bis zur Gewißheit zu bearbeiten, und ich wuͤn-
ſche bloß, daß es dem Herrn Kirnberger gefallen moͤge, (es
wuͤrde die gemeinnuͤtzigſte Beſchaͤftigung ſeyn, welcher ſich der-
ſelbe unterziehen koͤnnte,) die im §. 258. geaͤuſſerten zwey De-
ſideria tabellariſch ohne viele andere Weitlaͤuftigkeit zu erfuͤllen,
und bey dieſer Gelegenheit zwiſchen der gewoͤhnlichen und un-
gewoͤhnlichern Harmonie die Graͤnzen zu ziehen. Denn dieſes iſt
einmal gewiß, daß nicht alle zuſammengeſetzte ungewoͤhnliche
Accorde in eine jede Schreibart, und daß ſie auch mit gehoͤri-
ger Einſchraͤnkung nur in die Jnſtrumentalmuſik, im gering-
ſten aber nicht in die Vocalmuſik gehoͤren, wo viele der-
ſelben dem tonfeſteſten Chor verungluͤcken wuͤrden. Der-
jenige Harmoniſt, welcher ſich durch unbekanntere
Saͤtze von allen andern unterſcheidet, iſt unſtreitig der be-

ruͤhmte
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[256/0276] Anhang ꝛc. Zweyter Abſchnitt. 3) daß man dieſe Zuſammenſetzungen wiederum, wo nicht ganz, doch zum Theil oder verkuͤrzt umkehret, und alſo die harmoniſche Materie aufs neue umformet, um ver- mittelſt dieſes Proceſſes alles, was in der Harmonie ſchicklich iſt, zu entwickeln. §. 276. Die Urſache der angezeigten Weglaſſung iſt, weil von ver- ſchiednen Muſikern die Frage aufgeworfen worden iſt: ob, da die Zuſammenſetzung der Toͤne unſtreitig ihre Graͤn- zen haben muß, nicht allhier, wo die Zuſammenſe- tzung mit den eingeſchalteten Terzen anfaͤnget, dieſe Graͤnzen zu beſtimmen ſind? Bey ſolcher Verſchiedenheit der Meinungen unſerer Muſiker uͤber die Guͤltigkeit dieſes oder jenen Accords, habe ich es fuͤr unnoͤthig gehalten, die Lehre vom Grundbaß weiter als bis auf die bekanntern Accorde aus- zudehnen. Wie man ſich weiter uͤber dieſe Sphaͤre hinaus- ſchwingen koͤnne, iſt in der erſten Edition meines Hand- buchs ꝛc. von 1755 gezeiget worden. Jch habe aber, in der zweyten Edition dieſes Werks vom Jahre 1762, dieſe Ver- ſuche wieder weggelaſſen, theils weil die vorhin dargelegte Frage von einigen Muſikern erreget worden war, theils weil mir ſelbſt verſchiedene dieſer Verſuche, weder an ſich noch in Abſicht auf ihre Behandlung, nach der Zeit mehr gefielen. Jtzo erlauben es meine andern Geſchaͤfte nicht, dieſe Materie aufs neue und bis zur Gewißheit zu bearbeiten, und ich wuͤn- ſche bloß, daß es dem Herrn Kirnberger gefallen moͤge, (es wuͤrde die gemeinnuͤtzigſte Beſchaͤftigung ſeyn, welcher ſich der- ſelbe unterziehen koͤnnte,) die im §. 258. geaͤuſſerten zwey De- ſideria tabellariſch ohne viele andere Weitlaͤuftigkeit zu erfuͤllen, und bey dieſer Gelegenheit zwiſchen der gewoͤhnlichen und un- gewoͤhnlichern Harmonie die Graͤnzen zu ziehen. Denn dieſes iſt einmal gewiß, daß nicht alle zuſammengeſetzte ungewoͤhnliche Accorde in eine jede Schreibart, und daß ſie auch mit gehoͤri- ger Einſchraͤnkung nur in die Jnſtrumentalmuſik, im gering- ſten aber nicht in die Vocalmuſik gehoͤren, wo viele der- ſelben dem tonfeſteſten Chor verungluͤcken wuͤrden. Der- jenige Harmoniſt, welcher ſich durch unbekanntere Saͤtze von allen andern unterſcheidet, iſt unſtreitig der be- ruͤhmte

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/276>, abgerufen am 22.11.2024.