Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

des Rameau u. Kirnberg. Grundbasses überhaupt.
Absicht auf seine Unvollkommenheiten, (es hat der eine diese
und der andere jene, und es würde ein Unglück für die übri-
gen Sterblichen seyn, wenn ein einziger Mensch alle Vollkom-
menheiten beysammen hätte,) mit dem Herrn Kirnberger *)
denken:

"Wir irren allesamt; nur jeder irret anders."

§. 250.

Es ist wahr, daß verschiedne andere, Theater- Kammer-
und Kirchencomponisten von ebenfalls großem Nahmen, itziger
und voriger Zeit, deutsche, italienische und französische, be-
kannt sind, welche in Absicht auf die Freiheit im Satz den
Hrn. Rameau gewiß übertreffen. Allein die Unachtsamkeit des
einen entschuldigt nicht die Unachtsamkeit des andern, und ein
Fehler bleibt immer ein Fehler, er mag sich finden wo er will,
bey dem berühmtesten oder unberühmtesten Componisten, er
mag wissend oder unwissend, aus Zwang oder ohne Zwang,
im galanten Styl oder in doppelt contrapunktischen Anfsätzen
begangen worden seyn. Ein böser Gang klinget in einem Ton-
stück nicht besser oder schlimmer als in einem andern. Weder
der Character noch die Länge eines Tonstücks, noch das Anse-
hen eines Componisten kann einen Fehler gut machen, oder
der vermeinte Fehler ist nirgends ein Fehler.

§. 251.

Hat man nach allem diesen nicht Ursache sich zu verwun-
dern, daß manche Musiker, und öfters Genies vom ersten
Rang, so wenig Gefälligkeit für sich haben, ihren Satz aufs
schärfste auszufeilen, um sich nicht den Urtheilen von Leuten
Preiß zu geben, welche zwar ihre Fehler, aber nicht ihre
Schönheiten einzusehen im Stande sind, und welche zwar die
Regeln der Harmonie wissen, aber keine Erfindung im Kopfe
haben, um selber etwas Beyfallswürdiges hervorbringen, und
durch neue und unerwartete Gedanken überraschen zu können.
Es giebet Tonstücke, wozu gewiß andere Känntnisse erfordert

werden,
*) Ein von dem Hrn. Kirnberger in einen vortreflichen Canon gebrach-
ter, und auf dem Frontispice seiner Kunst etc. befindlicher Denkspruch,
welcher von seiner bescheidnen Denkungsart zeuget.

des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt.
Abſicht auf ſeine Unvollkommenheiten, (es hat der eine dieſe
und der andere jene, und es wuͤrde ein Ungluͤck fuͤr die uͤbri-
gen Sterblichen ſeyn, wenn ein einziger Menſch alle Vollkom-
menheiten beyſammen haͤtte,) mit dem Herrn Kirnberger *)
denken:

„Wir irren alleſamt; nur jeder irret anders.‟

§. 250.

Es iſt wahr, daß verſchiedne andere, Theater- Kammer-
und Kirchencomponiſten von ebenfalls großem Nahmen, itziger
und voriger Zeit, deutſche, italieniſche und franzoͤſiſche, be-
kannt ſind, welche in Abſicht auf die Freiheit im Satz den
Hrn. Rameau gewiß uͤbertreffen. Allein die Unachtſamkeit des
einen entſchuldigt nicht die Unachtſamkeit des andern, und ein
Fehler bleibt immer ein Fehler, er mag ſich finden wo er will,
bey dem beruͤhmteſten oder unberuͤhmteſten Componiſten, er
mag wiſſend oder unwiſſend, aus Zwang oder ohne Zwang,
im galanten Styl oder in doppelt contrapunktiſchen Anfſaͤtzen
begangen worden ſeyn. Ein boͤſer Gang klinget in einem Ton-
ſtuͤck nicht beſſer oder ſchlimmer als in einem andern. Weder
der Character noch die Laͤnge eines Tonſtuͤcks, noch das Anſe-
hen eines Componiſten kann einen Fehler gut machen, oder
der vermeinte Fehler iſt nirgends ein Fehler.

§. 251.

Hat man nach allem dieſen nicht Urſache ſich zu verwun-
dern, daß manche Muſiker, und oͤfters Genies vom erſten
Rang, ſo wenig Gefaͤlligkeit fuͤr ſich haben, ihren Satz aufs
ſchaͤrfſte auszufeilen, um ſich nicht den Urtheilen von Leuten
Preiß zu geben, welche zwar ihre Fehler, aber nicht ihre
Schoͤnheiten einzuſehen im Stande ſind, und welche zwar die
Regeln der Harmonie wiſſen, aber keine Erfindung im Kopfe
haben, um ſelber etwas Beyfallswuͤrdiges hervorbringen, und
durch neue und unerwartete Gedanken uͤberraſchen zu koͤnnen.
Es giebet Tonſtuͤcke, wozu gewiß andere Kaͤnntniſſe erfordert

werden,
*) Ein von dem Hrn. Kirnberger in einen vortreflichen Canon gebrach-
ter, und auf dem Frontiſpice ſeiner Kunſt ꝛc. befindlicher Denkſpruch,
welcher von ſeiner beſcheidnen Denkungsart zeuget.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0255" n="235"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Rameau u. Kirnberg. Grundba&#x017F;&#x017F;es u&#x0364;berhaupt.</hi></fw><lb/>
Ab&#x017F;icht auf &#x017F;eine Unvollkommenheiten, (es hat der eine die&#x017F;e<lb/>
und der andere jene, und es wu&#x0364;rde ein Unglu&#x0364;ck fu&#x0364;r die u&#x0364;bri-<lb/>
gen Sterblichen &#x017F;eyn, wenn ein einziger Men&#x017F;ch alle Vollkom-<lb/>
menheiten bey&#x017F;ammen ha&#x0364;tte,) mit dem Herrn Kirnberger <note place="foot" n="*)">Ein von dem Hrn. Kirnberger in einen vortreflichen Canon gebrach-<lb/>
ter, und auf dem Fronti&#x017F;pice &#x017F;einer <hi rendition="#fr">Kun&#x017F;t</hi> &#xA75B;c. befindlicher Denk&#x017F;pruch,<lb/>
welcher von &#x017F;einer be&#x017F;cheidnen Denkungsart zeuget.</note><lb/>
denken:</p><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">&#x201E;Wir irren alle&#x017F;amt; nur jeder irret anders.&#x201F;</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 250.</head><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t wahr, daß ver&#x017F;chiedne andere, Theater- Kammer-<lb/>
und Kirchencomponi&#x017F;ten von ebenfalls großem Nahmen, itziger<lb/>
und voriger Zeit, deut&#x017F;che, italieni&#x017F;che und franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che, be-<lb/>
kannt &#x017F;ind, welche in Ab&#x017F;icht auf die Freiheit im Satz den<lb/>
Hrn. Rameau gewiß u&#x0364;bertreffen. Allein die Unacht&#x017F;amkeit des<lb/>
einen ent&#x017F;chuldigt nicht die Unacht&#x017F;amkeit des andern, und ein<lb/>
Fehler bleibt immer ein Fehler, er mag &#x017F;ich finden wo er will,<lb/>
bey dem beru&#x0364;hmte&#x017F;ten oder unberu&#x0364;hmte&#x017F;ten Componi&#x017F;ten, er<lb/>
mag wi&#x017F;&#x017F;end oder unwi&#x017F;&#x017F;end, aus Zwang oder ohne Zwang,<lb/>
im galanten Styl oder in doppelt contrapunkti&#x017F;chen Anf&#x017F;a&#x0364;tzen<lb/>
begangen worden &#x017F;eyn. Ein bo&#x0364;&#x017F;er Gang klinget in einem Ton-<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;ck nicht be&#x017F;&#x017F;er oder &#x017F;chlimmer als in einem andern. Weder<lb/>
der Character noch die La&#x0364;nge eines Ton&#x017F;tu&#x0364;cks, noch das An&#x017F;e-<lb/>
hen eines Componi&#x017F;ten kann einen Fehler gut machen, oder<lb/>
der vermeinte Fehler i&#x017F;t nirgends ein Fehler.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 251.</head><lb/>
              <p>Hat man nach allem die&#x017F;en nicht Ur&#x017F;ache &#x017F;ich zu verwun-<lb/>
dern, daß manche Mu&#x017F;iker, und o&#x0364;fters Genies vom er&#x017F;ten<lb/>
Rang, &#x017F;o wenig Gefa&#x0364;lligkeit fu&#x0364;r &#x017F;ich haben, ihren Satz aufs<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;te auszufeilen, um &#x017F;ich nicht den Urtheilen von Leuten<lb/>
Preiß zu geben, welche zwar ihre Fehler, aber nicht ihre<lb/>
Scho&#x0364;nheiten einzu&#x017F;ehen im Stande &#x017F;ind, und welche zwar die<lb/>
Regeln der Harmonie wi&#x017F;&#x017F;en, aber keine Erfindung im Kopfe<lb/>
haben, um &#x017F;elber etwas Beyfallswu&#x0364;rdiges hervorbringen, und<lb/>
durch neue und unerwartete Gedanken u&#x0364;berra&#x017F;chen zu ko&#x0364;nnen.<lb/>
Es giebet Ton&#x017F;tu&#x0364;cke, wozu gewiß andere Ka&#x0364;nntni&#x017F;&#x017F;e erfordert<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">werden,</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0255] des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt. Abſicht auf ſeine Unvollkommenheiten, (es hat der eine dieſe und der andere jene, und es wuͤrde ein Ungluͤck fuͤr die uͤbri- gen Sterblichen ſeyn, wenn ein einziger Menſch alle Vollkom- menheiten beyſammen haͤtte,) mit dem Herrn Kirnberger *) denken: „Wir irren alleſamt; nur jeder irret anders.‟ §. 250. Es iſt wahr, daß verſchiedne andere, Theater- Kammer- und Kirchencomponiſten von ebenfalls großem Nahmen, itziger und voriger Zeit, deutſche, italieniſche und franzoͤſiſche, be- kannt ſind, welche in Abſicht auf die Freiheit im Satz den Hrn. Rameau gewiß uͤbertreffen. Allein die Unachtſamkeit des einen entſchuldigt nicht die Unachtſamkeit des andern, und ein Fehler bleibt immer ein Fehler, er mag ſich finden wo er will, bey dem beruͤhmteſten oder unberuͤhmteſten Componiſten, er mag wiſſend oder unwiſſend, aus Zwang oder ohne Zwang, im galanten Styl oder in doppelt contrapunktiſchen Anfſaͤtzen begangen worden ſeyn. Ein boͤſer Gang klinget in einem Ton- ſtuͤck nicht beſſer oder ſchlimmer als in einem andern. Weder der Character noch die Laͤnge eines Tonſtuͤcks, noch das Anſe- hen eines Componiſten kann einen Fehler gut machen, oder der vermeinte Fehler iſt nirgends ein Fehler. §. 251. Hat man nach allem dieſen nicht Urſache ſich zu verwun- dern, daß manche Muſiker, und oͤfters Genies vom erſten Rang, ſo wenig Gefaͤlligkeit fuͤr ſich haben, ihren Satz aufs ſchaͤrfſte auszufeilen, um ſich nicht den Urtheilen von Leuten Preiß zu geben, welche zwar ihre Fehler, aber nicht ihre Schoͤnheiten einzuſehen im Stande ſind, und welche zwar die Regeln der Harmonie wiſſen, aber keine Erfindung im Kopfe haben, um ſelber etwas Beyfallswuͤrdiges hervorbringen, und durch neue und unerwartete Gedanken uͤberraſchen zu koͤnnen. Es giebet Tonſtuͤcke, wozu gewiß andere Kaͤnntniſſe erfordert werden, *) Ein von dem Hrn. Kirnberger in einen vortreflichen Canon gebrach- ter, und auf dem Frontiſpice ſeiner Kunſt ꝛc. befindlicher Denkſpruch, welcher von ſeiner beſcheidnen Denkungsart zeuget.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/255
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/255>, abgerufen am 22.11.2024.