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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
schwebende? Was in der Harmonie ein Fehler wider die Fort-
schreitung der Jntervalle ist, eine böse Quinte oder Octave,
eine nicht gehörig vorbereitete und aufgelösete Dissonanz, u. s. w.
das ist in der Ausübung ein Fehler wider die Reinigkeit, mit
dem blossen Unterscheid, daß der harmonische Fehler nur von
einer gewissen Classe von Kunstverständigen, hingegen der
Fehler wider die Reinigkeit in der Ausübung auch von blossen
Liebhabern wahrgenommen werden kann. Mir deucht, daß
keine Ursache vorhanden ist, Fehler zu veranlassen.

§. 214.

Dritte Fortsetzung der Anmerkung. über das zweyte
Argument.
Daß eben dasselbe Tonstück, z. E. das ange-
führte Mora &c. aus der Oper Jphigenia, aus einem Tone
anders klinget, als aus einem andern, hat seine völlige Rich-
tigkeit, und von der Verschiedenheit der Wirkung überführet
zu seyn, darf man ein Tonstück nicht einmal aus seinem Ton
wegnehmen. Es brauchet nur, bey eben derselben Tempera-
tur, eine Octave höher oder tiefer gespielet zu werden. Jn
der zweyten Temperatur des Hrn. Kirnberger sind die Töne
Es und As auf einerley Art characterisiret worden, um mich
dieses Ausdrucks zu bedienen, das ist, sie sind gleich unrein.
Dessen ungeachtet wird das Mora &c. in dem As von andrer
Wirkung seyn als in dem Es; und was ist denn wohl die Ur-
sach dieser Verschiedenheit? Gewißlich nicht die Art der Tem-
peratur, (wenigstens hatte der unsterbliche Graun nicht die
pythagorische Temperatur zum Augenmerk, als er dieses vor-
trefliche Chor setzte;) und was denn? Die Verschiedenheit der
Höhe in den beyden Grundtönen. Sowohl zwischen allen
zwölf harten als zwölf weichen Tönen ist die Wahl eines Tons
für den Ausdruck eines Characters schlechterdings an sich einer-
ley, die Töne seyn temperirt wie sie wollen. Wenn bey die-
sen Umständen der Componist den einen Ton dem andern vor-
zieht, so hat er seine Ursachen dazu, welche mit der Temperatur
nichts gemeines haben, und die bald in der bequemern Ausübung
an sich, bald in der seinem Modulationsplan zu Folge für den
Umfang der Stimme eines Sängers, oder für den Umfang
eines Jnstruments, einzurichtenden beqnemern Tonführung, u.
s. w. zu suchen sind. Da der Componist aber seine ganze Ar-

beit

Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
ſchwebende? Was in der Harmonie ein Fehler wider die Fort-
ſchreitung der Jntervalle iſt, eine boͤſe Quinte oder Octave,
eine nicht gehoͤrig vorbereitete und aufgeloͤſete Diſſonanz, u. ſ. w.
das iſt in der Ausuͤbung ein Fehler wider die Reinigkeit, mit
dem bloſſen Unterſcheid, daß der harmoniſche Fehler nur von
einer gewiſſen Claſſe von Kunſtverſtaͤndigen, hingegen der
Fehler wider die Reinigkeit in der Ausuͤbung auch von bloſſen
Liebhabern wahrgenommen werden kann. Mir deucht, daß
keine Urſache vorhanden iſt, Fehler zu veranlaſſen.

§. 214.

Dritte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das zweyte
Argument.
Daß eben daſſelbe Tonſtuͤck, z. E. das ange-
fuͤhrte Mora &c. aus der Oper Jphigenia, aus einem Tone
anders klinget, als aus einem andern, hat ſeine voͤllige Rich-
tigkeit, und von der Verſchiedenheit der Wirkung uͤberfuͤhret
zu ſeyn, darf man ein Tonſtuͤck nicht einmal aus ſeinem Ton
wegnehmen. Es brauchet nur, bey eben derſelben Tempera-
tur, eine Octave hoͤher oder tiefer geſpielet zu werden. Jn
der zweyten Temperatur des Hrn. Kirnberger ſind die Toͤne
Es und As auf einerley Art characteriſiret worden, um mich
dieſes Ausdrucks zu bedienen, das iſt, ſie ſind gleich unrein.
Deſſen ungeachtet wird das Mora &c. in dem As von andrer
Wirkung ſeyn als in dem Es; und was iſt denn wohl die Ur-
ſach dieſer Verſchiedenheit? Gewißlich nicht die Art der Tem-
peratur, (wenigſtens hatte der unſterbliche Graun nicht die
pythagoriſche Temperatur zum Augenmerk, als er dieſes vor-
trefliche Chor ſetzte;) und was denn? Die Verſchiedenheit der
Hoͤhe in den beyden Grundtoͤnen. Sowohl zwiſchen allen
zwoͤlf harten als zwoͤlf weichen Toͤnen iſt die Wahl eines Tons
fuͤr den Ausdruck eines Characters ſchlechterdings an ſich einer-
ley, die Toͤne ſeyn temperirt wie ſie wollen. Wenn bey die-
ſen Umſtaͤnden der Componiſt den einen Ton dem andern vor-
zieht, ſo hat er ſeine Urſachen dazu, welche mit der Temperatur
nichts gemeines haben, und die bald in der bequemern Ausuͤbung
an ſich, bald in der ſeinem Modulationsplan zu Folge fuͤr den
Umfang der Stimme eines Saͤngers, oder fuͤr den Umfang
eines Jnſtruments, einzurichtenden beqnemern Tonfuͤhrung, u.
ſ. w. zu ſuchen ſind. Da der Componiſt aber ſeine ganze Ar-

beit
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[196/0216] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung ſchwebende? Was in der Harmonie ein Fehler wider die Fort- ſchreitung der Jntervalle iſt, eine boͤſe Quinte oder Octave, eine nicht gehoͤrig vorbereitete und aufgeloͤſete Diſſonanz, u. ſ. w. das iſt in der Ausuͤbung ein Fehler wider die Reinigkeit, mit dem bloſſen Unterſcheid, daß der harmoniſche Fehler nur von einer gewiſſen Claſſe von Kunſtverſtaͤndigen, hingegen der Fehler wider die Reinigkeit in der Ausuͤbung auch von bloſſen Liebhabern wahrgenommen werden kann. Mir deucht, daß keine Urſache vorhanden iſt, Fehler zu veranlaſſen. §. 214. Dritte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das zweyte Argument. Daß eben daſſelbe Tonſtuͤck, z. E. das ange- fuͤhrte Mora &c. aus der Oper Jphigenia, aus einem Tone anders klinget, als aus einem andern, hat ſeine voͤllige Rich- tigkeit, und von der Verſchiedenheit der Wirkung uͤberfuͤhret zu ſeyn, darf man ein Tonſtuͤck nicht einmal aus ſeinem Ton wegnehmen. Es brauchet nur, bey eben derſelben Tempera- tur, eine Octave hoͤher oder tiefer geſpielet zu werden. Jn der zweyten Temperatur des Hrn. Kirnberger ſind die Toͤne Es und As auf einerley Art characteriſiret worden, um mich dieſes Ausdrucks zu bedienen, das iſt, ſie ſind gleich unrein. Deſſen ungeachtet wird das Mora &c. in dem As von andrer Wirkung ſeyn als in dem Es; und was iſt denn wohl die Ur- ſach dieſer Verſchiedenheit? Gewißlich nicht die Art der Tem- peratur, (wenigſtens hatte der unſterbliche Graun nicht die pythagoriſche Temperatur zum Augenmerk, als er dieſes vor- trefliche Chor ſetzte;) und was denn? Die Verſchiedenheit der Hoͤhe in den beyden Grundtoͤnen. Sowohl zwiſchen allen zwoͤlf harten als zwoͤlf weichen Toͤnen iſt die Wahl eines Tons fuͤr den Ausdruck eines Characters ſchlechterdings an ſich einer- ley, die Toͤne ſeyn temperirt wie ſie wollen. Wenn bey die- ſen Umſtaͤnden der Componiſt den einen Ton dem andern vor- zieht, ſo hat er ſeine Urſachen dazu, welche mit der Temperatur nichts gemeines haben, und die bald in der bequemern Ausuͤbung an ſich, bald in der ſeinem Modulationsplan zu Folge fuͤr den Umfang der Stimme eines Saͤngers, oder fuͤr den Umfang eines Jnſtruments, einzurichtenden beqnemern Tonfuͤhrung, u. ſ. w. zu ſuchen ſind. Da der Componiſt aber ſeine ganze Ar- beit

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/216>, abgerufen am 25.11.2024.