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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg v. der ungleichschw etc.
Dresdner Flöten sind anders wie die Quanzischen tempe-
rirt, u. s. w. Wenn sich mit diesen auf verschiedne Art tempe-
rirenden Stimmen und Jnstrumenten ein Clavierinstrument
zur Ausführung eines Tonstücks vereinigt, welche Art von
Temperatur würde wohl die schicklichste fürs Clavier seyn, die-
jenige, welche ebenfalls bald hier bald dort im Exceß oder De-
fect der Töne sündigte, ohne deswegen mit den Singstimmen,
Geigen und Flöten übereinzutreffen, oder diejenige, in wel-
cher die Jntervalle ihrer natürlichen Reinigkeit am nächsten
kommen? Ohne Zweifel die leztere, nicht allein deswegen, weil
die den natürlichen Verhältnissen am nächsten kommenden Jn-
tervalle an sich selbst die besten sind, sondern weil durch die
verschiedne Ausbildung eben desselben Tons auf den verschied-
nen Jnstrumenten natürlicher Weise Misklänge entstehen, wel-
che durch die erste Art der Temperatur mehr als durch die
leztere vervielfältiget werden. Wenn nun keine andere Tem-
peratur, als die gleichschwebende, die Menge der Misklänge
zu vermindern im Stande ist, sondern durch alle Arten
ungleichschwebender Temperaturen, bald dieses bald jenes
Tons wegen, die Discrepanz der Töne vermehret wird, welche
Art von Temperatur ist da wohl die beste für den allgemeinen
Gebrauch? Ohne Zweifel die gleichschwebende. So gewiß
nun dieses ist, so fehlt es doch nicht an Musikern, welche die
ungleichschwebende Temperatur über die gleichschwebende weg-
setzen, wovon sich die Ursach ohne viel Mühe angeben lässet.
Die gleichschwebende Temperatur ist nur auf eine einzige Art,
die ungleichschwebende hingegen auf unzähliche Art möglich.
Die leztere öfnet also einem speculirenden Musiker eine reich-
haltige Quelle von Veränderungen, und da ein jeder Musiker
gerne selbst erfinden will, so kömmt es daher, daß wir von
Zeit zu Zeit mit einer neuen Art von ungleichschwebender Tem-
peratur beschenket werden, und daß ein jeder die seinige für
die beste hält.

§. 205.

Unter allen Aufsätzen, welche jemals über die ungleich-
schwebende Temperatur erschienen sind, zeichnen sich vorzüg-
lich diejenigen aus, welche sich theils in des Herrn Sulzers

Theorie
M 4

der Lehre des Hrn. Kirnberg v. der ungleichſchw ꝛc.
Dresdner Floͤten ſind anders wie die Quanziſchen tempe-
rirt, u. ſ. w. Wenn ſich mit dieſen auf verſchiedne Art tempe-
rirenden Stimmen und Jnſtrumenten ein Clavierinſtrument
zur Ausfuͤhrung eines Tonſtuͤcks vereinigt, welche Art von
Temperatur wuͤrde wohl die ſchicklichſte fuͤrs Clavier ſeyn, die-
jenige, welche ebenfalls bald hier bald dort im Exceß oder De-
fect der Toͤne ſuͤndigte, ohne deswegen mit den Singſtimmen,
Geigen und Floͤten uͤbereinzutreffen, oder diejenige, in wel-
cher die Jntervalle ihrer natuͤrlichen Reinigkeit am naͤchſten
kommen? Ohne Zweifel die leztere, nicht allein deswegen, weil
die den natuͤrlichen Verhaͤltniſſen am naͤchſten kommenden Jn-
tervalle an ſich ſelbſt die beſten ſind, ſondern weil durch die
verſchiedne Ausbildung eben deſſelben Tons auf den verſchied-
nen Jnſtrumenten natuͤrlicher Weiſe Misklaͤnge entſtehen, wel-
che durch die erſte Art der Temperatur mehr als durch die
leztere vervielfaͤltiget werden. Wenn nun keine andere Tem-
peratur, als die gleichſchwebende, die Menge der Misklaͤnge
zu vermindern im Stande iſt, ſondern durch alle Arten
ungleichſchwebender Temperaturen, bald dieſes bald jenes
Tons wegen, die Diſcrepanz der Toͤne vermehret wird, welche
Art von Temperatur iſt da wohl die beſte fuͤr den allgemeinen
Gebrauch? Ohne Zweifel die gleichſchwebende. So gewiß
nun dieſes iſt, ſo fehlt es doch nicht an Muſikern, welche die
ungleichſchwebende Temperatur uͤber die gleichſchwebende weg-
ſetzen, wovon ſich die Urſach ohne viel Muͤhe angeben laͤſſet.
Die gleichſchwebende Temperatur iſt nur auf eine einzige Art,
die ungleichſchwebende hingegen auf unzaͤhliche Art moͤglich.
Die leztere oͤfnet alſo einem ſpeculirenden Muſiker eine reich-
haltige Quelle von Veraͤnderungen, und da ein jeder Muſiker
gerne ſelbſt erfinden will, ſo koͤmmt es daher, daß wir von
Zeit zu Zeit mit einer neuen Art von ungleichſchwebender Tem-
peratur beſchenket werden, und daß ein jeder die ſeinige fuͤr
die beſte haͤlt.

§. 205.

Unter allen Aufſaͤtzen, welche jemals uͤber die ungleich-
ſchwebende Temperatur erſchienen ſind, zeichnen ſich vorzuͤg-
lich diejenigen aus, welche ſich theils in des Herrn Sulzers

Theorie
M 4
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[183/0203] der Lehre des Hrn. Kirnberg v. der ungleichſchw ꝛc. Dresdner Floͤten ſind anders wie die Quanziſchen tempe- rirt, u. ſ. w. Wenn ſich mit dieſen auf verſchiedne Art tempe- rirenden Stimmen und Jnſtrumenten ein Clavierinſtrument zur Ausfuͤhrung eines Tonſtuͤcks vereinigt, welche Art von Temperatur wuͤrde wohl die ſchicklichſte fuͤrs Clavier ſeyn, die- jenige, welche ebenfalls bald hier bald dort im Exceß oder De- fect der Toͤne ſuͤndigte, ohne deswegen mit den Singſtimmen, Geigen und Floͤten uͤbereinzutreffen, oder diejenige, in wel- cher die Jntervalle ihrer natuͤrlichen Reinigkeit am naͤchſten kommen? Ohne Zweifel die leztere, nicht allein deswegen, weil die den natuͤrlichen Verhaͤltniſſen am naͤchſten kommenden Jn- tervalle an ſich ſelbſt die beſten ſind, ſondern weil durch die verſchiedne Ausbildung eben deſſelben Tons auf den verſchied- nen Jnſtrumenten natuͤrlicher Weiſe Misklaͤnge entſtehen, wel- che durch die erſte Art der Temperatur mehr als durch die leztere vervielfaͤltiget werden. Wenn nun keine andere Tem- peratur, als die gleichſchwebende, die Menge der Misklaͤnge zu vermindern im Stande iſt, ſondern durch alle Arten ungleichſchwebender Temperaturen, bald dieſes bald jenes Tons wegen, die Diſcrepanz der Toͤne vermehret wird, welche Art von Temperatur iſt da wohl die beſte fuͤr den allgemeinen Gebrauch? Ohne Zweifel die gleichſchwebende. So gewiß nun dieſes iſt, ſo fehlt es doch nicht an Muſikern, welche die ungleichſchwebende Temperatur uͤber die gleichſchwebende weg- ſetzen, wovon ſich die Urſach ohne viel Muͤhe angeben laͤſſet. Die gleichſchwebende Temperatur iſt nur auf eine einzige Art, die ungleichſchwebende hingegen auf unzaͤhliche Art moͤglich. Die leztere oͤfnet alſo einem ſpeculirenden Muſiker eine reich- haltige Quelle von Veraͤnderungen, und da ein jeder Muſiker gerne ſelbſt erfinden will, ſo koͤmmt es daher, daß wir von Zeit zu Zeit mit einer neuen Art von ungleichſchwebender Tem- peratur beſchenket werden, und daß ein jeder die ſeinige fuͤr die beſte haͤlt. §. 205. Unter allen Aufſaͤtzen, welche jemals uͤber die ungleich- ſchwebende Temperatur erſchienen ſind, zeichnen ſich vorzuͤg- lich diejenigen aus, welche ſich theils in des Herrn Sulzers Theorie M 4

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/203>, abgerufen am 24.11.2024.