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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Achtzehnter Abschn. Die gleichschw. Temper.
1) vor dem Theilungspunkt. Dieser Proceß giebet das
erstere oder unvollkommne Reine; 2) auf dem Theilungs-
punkt
; dadurch bekömmt man das ganze oder natürliche Reine,
und 3) hinter dem Theilungspunkt, wodurch man das
überflüßige oder zuviel Reine erhält. Um diese dreyerley Stuf-
fen der Reinigkeit desto besser unterscheiden zu können, und
das Gehör an diesen Unterscheid zu gewöhnen, kann man, so oft
man Versuche anstellet, das Monochord auf ein paar Schach-
teldeckel legen, und dadurch den Klang der Seyten verstärken.
Die Erfahrung lehret, daß das Gehör den beyden lezten Stuf-
fen des Reinen am geneigtesten ist. Weil man aber am Ende
des Quintenzirkels seine Rechnung nicht dabey findet, so muß
man sich gewöhnen, das erstere oder unvollkommne Reine
wohl zu bemerken, zu erkennen, und in der Folge zu gebrau-
chen. Wenn das Gehör durch diese Uebungen genugsam un-
terrichtet ist, und man zur Stimmung selber schreitet, so nimmt
man solche zwar nach der gewöhnlichen Ordnung vor, vermit-
telst welcher ein gewisser Grundton zuerst in sich selbst nach
einer gewissen Höhe oder Tiefe gestimmet, und der Proceß
hernach mit abwechselnden Quinten und Octaven fortgesetzet
wird. Nur müssen die Quinten niemals weiter, als bis zum
erstern Grade des Reinen angezogen werden, und man kann
nach jeder vierten Quinte eine Probe mit dem harten Drey-
klang machen, z. E. nach c g d a e mit c e g, nach g d a e h mit
g h d, nach d a e h fis mit d a fis und so weiter. Jst sie nicht
nach Wunsch gerathen, so kehret man zurück, und suchet den
Ort des Fehlers auf. Dieser Fehler kann öfters ohne unsere
Schuld entstehen, wenn sich bey der Stimmung einer folgen-
den Seyte eine vorhergehende wieder herunter zieht.

§. 162.

So gut die Vorschriften der vorigen beyden Methoden
sind, so ist dennoch leicht zu erachten, daß, da der Grad der
Schwebung eines Jntervalls vielleicht selten so vollkommen
durch das blosse Gehör erreichet wird, als es die strenge Aus-
messung des Monochords erfordert, wohl nicht allezeit vollkom-
men gleichschwebende Temperaturen dadurch bewirket werden,
obgleich allezeit solche Temperaturen kommen müssen, die besser
als diejenigen ungleichschwebenden sind, welche mit reinen Quin-

ten

Achtzehnter Abſchn. Die gleichſchw. Temper.
1) vor dem Theilungspunkt. Dieſer Proceß giebet das
erſtere oder unvollkommne Reine; 2) auf dem Theilungs-
punkt
; dadurch bekoͤmmt man das ganze oder natuͤrliche Reine,
und 3) hinter dem Theilungspunkt, wodurch man das
uͤberfluͤßige oder zuviel Reine erhaͤlt. Um dieſe dreyerley Stuf-
fen der Reinigkeit deſto beſſer unterſcheiden zu koͤnnen, und
das Gehoͤr an dieſen Unterſcheid zu gewoͤhnen, kann man, ſo oft
man Verſuche anſtellet, das Monochord auf ein paar Schach-
teldeckel legen, und dadurch den Klang der Seyten verſtaͤrken.
Die Erfahrung lehret, daß das Gehoͤr den beyden lezten Stuf-
fen des Reinen am geneigteſten iſt. Weil man aber am Ende
des Quintenzirkels ſeine Rechnung nicht dabey findet, ſo muß
man ſich gewoͤhnen, das erſtere oder unvollkommne Reine
wohl zu bemerken, zu erkennen, und in der Folge zu gebrau-
chen. Wenn das Gehoͤr durch dieſe Uebungen genugſam un-
terrichtet iſt, und man zur Stimmung ſelber ſchreitet, ſo nimmt
man ſolche zwar nach der gewoͤhnlichen Ordnung vor, vermit-
telſt welcher ein gewiſſer Grundton zuerſt in ſich ſelbſt nach
einer gewiſſen Hoͤhe oder Tiefe geſtimmet, und der Proceß
hernach mit abwechſelnden Quinten und Octaven fortgeſetzet
wird. Nur muͤſſen die Quinten niemals weiter, als bis zum
erſtern Grade des Reinen angezogen werden, und man kann
nach jeder vierten Quinte eine Probe mit dem harten Drey-
klang machen, z. E. nach c g d a e mit c e g, nach g d a e h mit
g h d, nach d a e h fis mit d a fis und ſo weiter. Jſt ſie nicht
nach Wunſch gerathen, ſo kehret man zuruͤck, und ſuchet den
Ort des Fehlers auf. Dieſer Fehler kann oͤfters ohne unſere
Schuld entſtehen, wenn ſich bey der Stimmung einer folgen-
den Seyte eine vorhergehende wieder herunter zieht.

§. 162.

So gut die Vorſchriften der vorigen beyden Methoden
ſind, ſo iſt dennoch leicht zu erachten, daß, da der Grad der
Schwebung eines Jntervalls vielleicht ſelten ſo vollkommen
durch das bloſſe Gehoͤr erreichet wird, als es die ſtrenge Aus-
meſſung des Monochords erfordert, wohl nicht allezeit vollkom-
men gleichſchwebende Temperaturen dadurch bewirket werden,
obgleich allezeit ſolche Temperaturen kommen muͤſſen, die beſſer
als diejenigen ungleichſchwebenden ſind, welche mit reinen Quin-

ten
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[136/0156] Achtzehnter Abſchn. Die gleichſchw. Temper. 1) vor dem Theilungspunkt. Dieſer Proceß giebet das erſtere oder unvollkommne Reine; 2) auf dem Theilungs- punkt; dadurch bekoͤmmt man das ganze oder natuͤrliche Reine, und 3) hinter dem Theilungspunkt, wodurch man das uͤberfluͤßige oder zuviel Reine erhaͤlt. Um dieſe dreyerley Stuf- fen der Reinigkeit deſto beſſer unterſcheiden zu koͤnnen, und das Gehoͤr an dieſen Unterſcheid zu gewoͤhnen, kann man, ſo oft man Verſuche anſtellet, das Monochord auf ein paar Schach- teldeckel legen, und dadurch den Klang der Seyten verſtaͤrken. Die Erfahrung lehret, daß das Gehoͤr den beyden lezten Stuf- fen des Reinen am geneigteſten iſt. Weil man aber am Ende des Quintenzirkels ſeine Rechnung nicht dabey findet, ſo muß man ſich gewoͤhnen, das erſtere oder unvollkommne Reine wohl zu bemerken, zu erkennen, und in der Folge zu gebrau- chen. Wenn das Gehoͤr durch dieſe Uebungen genugſam un- terrichtet iſt, und man zur Stimmung ſelber ſchreitet, ſo nimmt man ſolche zwar nach der gewoͤhnlichen Ordnung vor, vermit- telſt welcher ein gewiſſer Grundton zuerſt in ſich ſelbſt nach einer gewiſſen Hoͤhe oder Tiefe geſtimmet, und der Proceß hernach mit abwechſelnden Quinten und Octaven fortgeſetzet wird. Nur muͤſſen die Quinten niemals weiter, als bis zum erſtern Grade des Reinen angezogen werden, und man kann nach jeder vierten Quinte eine Probe mit dem harten Drey- klang machen, z. E. nach c g d a e mit c e g, nach g d a e h mit g h d, nach d a e h fis mit d a fis und ſo weiter. Jſt ſie nicht nach Wunſch gerathen, ſo kehret man zuruͤck, und ſuchet den Ort des Fehlers auf. Dieſer Fehler kann oͤfters ohne unſere Schuld entſtehen, wenn ſich bey der Stimmung einer folgen- den Seyte eine vorhergehende wieder herunter zieht. §. 162. So gut die Vorſchriften der vorigen beyden Methoden ſind, ſo iſt dennoch leicht zu erachten, daß, da der Grad der Schwebung eines Jntervalls vielleicht ſelten ſo vollkommen durch das bloſſe Gehoͤr erreichet wird, als es die ſtrenge Aus- meſſung des Monochords erfordert, wohl nicht allezeit vollkom- men gleichſchwebende Temperaturen dadurch bewirket werden, obgleich allezeit ſolche Temperaturen kommen muͤſſen, die beſſer als diejenigen ungleichſchwebenden ſind, welche mit reinen Quin- ten

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/156>, abgerufen am 30.09.2024.