ein der Musik unkundiger kann es hören, ob ein Jntervall wohl oder übel klinget; aber keiner kann einem Verhältniß seine Wirkung ansehen, wenn er nicht die Natur des Verhältnisses bereits kennet, oder solches mit andern ihm bekannten Ver- hältnissen zu vergleichen im Stande ist.
§. 102.
Es würde bey so bewandten Umständen eine ganz vergeb- liche Arbeit seyn, neue Consonanzen zu suchen, man mag den Calcul der Schwingungen oder Seytenlängen gebrauchen, und ich finde nicht, daß die drey vortreflichen Männer, die Her- ren Telemann, Scheibe und Riedt, welche sich mit Er- findung neuer Jntervalle beschäftiget haben, dergleichen Ver- suche gemacht hätten. Keiner von ihnen hat sich jemals ein- fallen lassen, die Verhältnisse 1:7, 2:7, 3:7, 4:7, 5:7, 6:7, 7:8 oder 1:11, 2:11, 3:11 u. s. w. für Consonan- zen zu erklären. Sobald nun keine andern Zahlen, als die sechs erstern, consonirende Verhältnisse geben, so folget na- türlicher Weise, daß alle übrige mögliche Verhältnisse, er- fundne und noch nicht erfundne, dissonirend seyn müssen, und es folget, daß diejenigen, welche unser System mit neuen Jn- tervallen bereichern wollen, nichts anders als Dissonanzen finden werden. Da kömmt es denn lediglich auf die Frage an: ob diese Dissonanzen zur Ausübung geschickt sind oder nicht. Wir wollen aber zuvörderst untersuchen: ob durch Hülfe des Notenplans neue Jntervalle erfunden werden können?
§. 103.
Zur Beantwortung der vorhergehenden Frage. Man weiß, daß auf dem Liniensystem, so wie solches bey uns gebräuchlich ist, die Größe eines Tons durch die Höhe eines Grads oder einer Stuffe angedeutet wird. Da der Ton die Sache und die Stuffe das Zeichen ist, so kömmt es bey der vorhabenden Frage darauf an, zu wissen, ob, um Jntervalle zu erfinden, das Zeichen anstatt der Sache gebrauchet und also eines dem andern substituiret werden könne. Wir wollen einen Versuch machen. Wenn die Haupttonleiter c d e f g a h, c eine Quinte höher oder tiefer versetzet wird, so entstehen (§. 91.
92.)
Zwoͤlfter Abſchnitt. Entſtehung
ein der Muſik unkundiger kann es hoͤren, ob ein Jntervall wohl oder uͤbel klinget; aber keiner kann einem Verhaͤltniß ſeine Wirkung anſehen, wenn er nicht die Natur des Verhaͤltniſſes bereits kennet, oder ſolches mit andern ihm bekannten Ver- haͤltniſſen zu vergleichen im Stande iſt.
§. 102.
Es wuͤrde bey ſo bewandten Umſtaͤnden eine ganz vergeb- liche Arbeit ſeyn, neue Conſonanzen zu ſuchen, man mag den Calcul der Schwingungen oder Seytenlaͤngen gebrauchen, und ich finde nicht, daß die drey vortreflichen Maͤnner, die Her- ren Telemann, Scheibe und Riedt, welche ſich mit Er- findung neuer Jntervalle beſchaͤftiget haben, dergleichen Ver- ſuche gemacht haͤtten. Keiner von ihnen hat ſich jemals ein- fallen laſſen, die Verhaͤltniſſe 1:7, 2:7, 3:7, 4:7, 5:7, 6:7, 7:8 oder 1:11, 2:11, 3:11 u. ſ. w. fuͤr Conſonan- zen zu erklaͤren. Sobald nun keine andern Zahlen, als die ſechs erſtern, conſonirende Verhaͤltniſſe geben, ſo folget na- tuͤrlicher Weiſe, daß alle uͤbrige moͤgliche Verhaͤltniſſe, er- fundne und noch nicht erfundne, diſſonirend ſeyn muͤſſen, und es folget, daß diejenigen, welche unſer Syſtem mit neuen Jn- tervallen bereichern wollen, nichts anders als Diſſonanzen finden werden. Da koͤmmt es denn lediglich auf die Frage an: ob dieſe Diſſonanzen zur Ausuͤbung geſchickt ſind oder nicht. Wir wollen aber zuvoͤrderſt unterſuchen: ob durch Huͤlfe des Notenplans neue Jntervalle erfunden werden koͤnnen?
§. 103.
Zur Beantwortung der vorhergehenden Frage. Man weiß, daß auf dem Linienſyſtem, ſo wie ſolches bey uns gebraͤuchlich iſt, die Groͤße eines Tons durch die Hoͤhe eines Grads oder einer Stuffe angedeutet wird. Da der Ton die Sache und die Stuffe das Zeichen iſt, ſo koͤmmt es bey der vorhabenden Frage darauf an, zu wiſſen, ob, um Jntervalle zu erfinden, das Zeichen anſtatt der Sache gebrauchet und alſo eines dem andern ſubſtituiret werden koͤnne. Wir wollen einen Verſuch machen. Wenn die Haupttonleiter c d e f g a h, c̅ eine Quinte hoͤher oder tiefer verſetzet wird, ſo entſtehen (§. 91.
92.)
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Zwoͤlfter Abſchnitt. Entſtehung
ein der Muſik unkundiger kann es hoͤren, ob ein Jntervall
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Wirkung anſehen, wenn er nicht die Natur des Verhaͤltniſſes
bereits kennet, oder ſolches mit andern ihm bekannten Ver-
haͤltniſſen zu vergleichen im Stande iſt.
§. 102.
Es wuͤrde bey ſo bewandten Umſtaͤnden eine ganz vergeb-
liche Arbeit ſeyn, neue Conſonanzen zu ſuchen, man mag den
Calcul der Schwingungen oder Seytenlaͤngen gebrauchen, und
ich finde nicht, daß die drey vortreflichen Maͤnner, die Her-
ren Telemann, Scheibe und Riedt, welche ſich mit Er-
findung neuer Jntervalle beſchaͤftiget haben, dergleichen Ver-
ſuche gemacht haͤtten. Keiner von ihnen hat ſich jemals ein-
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6:7, 7:8 oder 1:11, 2:11, 3:11 u. ſ. w. fuͤr Conſonan-
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ſechs erſtern, conſonirende Verhaͤltniſſe geben, ſo folget na-
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fundne und noch nicht erfundne, diſſonirend ſeyn muͤſſen, und
es folget, daß diejenigen, welche unſer Syſtem mit neuen Jn-
tervallen bereichern wollen, nichts anders als Diſſonanzen
finden werden. Da koͤmmt es denn lediglich auf die Frage
an: ob dieſe Diſſonanzen zur Ausuͤbung geſchickt ſind oder
nicht. Wir wollen aber zuvoͤrderſt unterſuchen: ob durch
Huͤlfe des Notenplans neue Jntervalle erfunden werden koͤnnen?
§. 103.
Zur Beantwortung der vorhergehenden Frage.
Man weiß, daß auf dem Linienſyſtem, ſo wie ſolches bey
uns gebraͤuchlich iſt, die Groͤße eines Tons durch die Hoͤhe
eines Grads oder einer Stuffe angedeutet wird. Da der Ton
die Sache und die Stuffe das Zeichen iſt, ſo koͤmmt es bey der
vorhabenden Frage darauf an, zu wiſſen, ob, um Jntervalle zu
erfinden, das Zeichen anſtatt der Sache gebrauchet und alſo
eines dem andern ſubſtituiret werden koͤnne. Wir wollen einen
Verſuch machen. Wenn die Haupttonleiter c d e f g a h, c̅
eine Quinte hoͤher oder tiefer verſetzet wird, ſo entſtehen (§. 91.
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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/104>, abgerufen am 16.02.2025.
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