Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Abendgebet allgemeinen Inhalts. wenn gleich weder ich noch ein anderer Mensch deineweisen und verborgenen Absichten immer zu enträthseln vermag. Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver- sucht, F 2
Abendgebet allgemeinen Inhalts. wenn gleich weder ich noch ein anderer Menſch deineweiſen und verborgenen Abſichten immer zu enträthſeln vermag. Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver- ſucht, F 2
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0095" n="83"/><fw place="top" type="header">Abendgebet allgemeinen Inhalts.</fw><lb/> wenn gleich weder ich noch ein anderer Menſch deine<lb/> weiſen und verborgenen Abſichten immer zu enträthſeln<lb/> vermag.</p><lb/> <p>Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl<lb/> auf mich ſelbſt und auf mein Leben zurückblicken? Kann<lb/> ich mit Heiterkeit und frohem Sinne an das denken,<lb/> was ich heute gethan oder nicht gethan, erworben oder<lb/> verloren habe? Bin ich heute beſſer oder ſchlechter, voll-<lb/> kommener oder unvollkommener geworden? Ich hatte<lb/> Gelegenheit, viel Wahres und Brauchbares zu ler-<lb/> nen, viele falſche Meinungen abzulegen, viele Thor-<lb/> heiten zu beſtreiten. Habe ich dieſe Gelegenheit ſorg-<lb/> fältig genutzt? Habe ich dem Unterrichte, der mir er-<lb/> theilt worden iſt, mit Luſt und Eifer, oder nur aus<lb/> Furcht und Zwang beygewohnt? Bin ich lehrbegierig<lb/> und aufmerkſam, oder zerſtreut und unachtſam dabey<lb/> geweſen? Habe ich meinen Lehrern ihr Amt erleich-<lb/> tert oder erſchweret, ihnen Freude oder Misvergnü-<lb/> gen gemacht? Fühlte ich einen Durſt nach Kenntniſ-<lb/> ſen und Verbeſſerung meiner Einſichten; oder habe<lb/> ich mich von dem ſchädlichen Vorurtheile blenden laſ-<lb/> ſen, als ob ſich mein Geſchlecht mit noch ſo wenigen<lb/> und unvollſtändigen Kenntniſſen befriedigen könne?</p><lb/> <p>Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver-<lb/> anlaſſung Beweiſe ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegen<lb/> mich. Habe ich auch ihnen dieſelben gegeben? Fühlte<lb/> ich mich ſtets von recht kindlichen und dankbaren Ge-<lb/> ſinnungen gegen ſie durchdrungen? Habe ich alles,<lb/> und alles gern und willig gethan, was ſie mich<lb/> thun hießen? Habe ich ihnen nichts zu verheelen ge-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">F 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ſucht,</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [83/0095]
Abendgebet allgemeinen Inhalts.
wenn gleich weder ich noch ein anderer Menſch deine
weiſen und verborgenen Abſichten immer zu enträthſeln
vermag.
Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl
auf mich ſelbſt und auf mein Leben zurückblicken? Kann
ich mit Heiterkeit und frohem Sinne an das denken,
was ich heute gethan oder nicht gethan, erworben oder
verloren habe? Bin ich heute beſſer oder ſchlechter, voll-
kommener oder unvollkommener geworden? Ich hatte
Gelegenheit, viel Wahres und Brauchbares zu ler-
nen, viele falſche Meinungen abzulegen, viele Thor-
heiten zu beſtreiten. Habe ich dieſe Gelegenheit ſorg-
fältig genutzt? Habe ich dem Unterrichte, der mir er-
theilt worden iſt, mit Luſt und Eifer, oder nur aus
Furcht und Zwang beygewohnt? Bin ich lehrbegierig
und aufmerkſam, oder zerſtreut und unachtſam dabey
geweſen? Habe ich meinen Lehrern ihr Amt erleich-
tert oder erſchweret, ihnen Freude oder Misvergnü-
gen gemacht? Fühlte ich einen Durſt nach Kenntniſ-
ſen und Verbeſſerung meiner Einſichten; oder habe
ich mich von dem ſchädlichen Vorurtheile blenden laſ-
ſen, als ob ſich mein Geſchlecht mit noch ſo wenigen
und unvollſtändigen Kenntniſſen befriedigen könne?
Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver-
anlaſſung Beweiſe ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegen
mich. Habe ich auch ihnen dieſelben gegeben? Fühlte
ich mich ſtets von recht kindlichen und dankbaren Ge-
ſinnungen gegen ſie durchdrungen? Habe ich alles,
und alles gern und willig gethan, was ſie mich
thun hießen? Habe ich ihnen nichts zu verheelen ge-
ſucht,
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