tadelns- als lobenswürdige Beyspiele zusehen, und dadurch mehr zum Laster als zur Tugend geführt zu werden.
Ja, es ist gewiß, daß die meisten lasterhaften Menschen schon in ihren jungen Jahren und auf die- sem Wege verdorben werden. Denn es giebt nur sehr wenige, die einen so schwachen und eingeschränk- ten Verstand haben, daß sie ihre Pflichten und die Verbindlichkeiten zu denselben nicht begreiffen könnten; nur sehr wenige, die gar keinen Unterricht in der Re- ligion genössen und in Absicht auf das, was Tugend ist, ganz unwissend blieben. Aber wie viele giebt es nicht, die bey den besten Kenntnissen und bey dem sorgfältigsten Religionsunterrichte doch lasterhaft han- deln, weil sie wenige Beyspiele der Rechtschaffenheit und Tugend vor sich hatten, nach welchen sie sich bil- den konnten, weil sie, ohne daß sie es wollten und blos durch die verkehrte und straf barste Denkungsart ihrer Gesellschafter und Freunde zu eben den schlechten niedrigen Gesinnungen verleitet wurden?
O welche Vorsicht, welche Behutsamkeit habe ich nicht in dem Umgange mit andern nöthig! Wie sorgfältig muß ich da nicht über mich wachen, um unter Bösen oder Leichtsinnigen nicht selbst böse und leichtsinnig zu werden! Ich kann mit dem größten Fleiße im Christenthume unterrichtet, ich kann von meinen Aeltern und Lehrern ernstlich zur Tugend er- muntert werden: wenn aber das Laster auf meine Sinnlichkeit wirkt, wenn ich Böses sehe und höre, wenn ich mich durch dieses öftere Sehen und Hören
zur
Die Macht und der Einfluß böſer Beyſpiele.
tadelns- als lobenswürdige Beyſpiele zuſehen, und dadurch mehr zum Laſter als zur Tugend geführt zu werden.
Ja, es iſt gewiß, daß die meiſten laſterhaften Menſchen ſchon in ihren jungen Jahren und auf die- ſem Wege verdorben werden. Denn es giebt nur ſehr wenige, die einen ſo ſchwachen und eingeſchränk- ten Verſtand haben, daß ſie ihre Pflichten und die Verbindlichkeiten zu denſelben nicht begreiffen könnten; nur ſehr wenige, die gar keinen Unterricht in der Re- ligion genöſſen und in Abſicht auf das, was Tugend iſt, ganz unwiſſend blieben. Aber wie viele giebt es nicht, die bey den beſten Kenntniſſen und bey dem ſorgfältigſten Religionsunterrichte doch laſterhaft han- deln, weil ſie wenige Beyſpiele der Rechtſchaffenheit und Tugend vor ſich hatten, nach welchen ſie ſich bil- den konnten, weil ſie, ohne daß ſie es wollten und blos durch die verkehrte und ſtraf barſte Denkungsart ihrer Geſellſchafter und Freunde zu eben den ſchlechten niedrigen Geſinnungen verleitet wurden?
O welche Vorſicht, welche Behutſamkeit habe ich nicht in dem Umgange mit andern nöthig! Wie ſorgfältig muß ich da nicht über mich wachen, um unter Böſen oder Leichtſinnigen nicht ſelbſt böſe und leichtſinnig zu werden! Ich kann mit dem größten Fleiße im Chriſtenthume unterrichtet, ich kann von meinen Aeltern und Lehrern ernſtlich zur Tugend er- muntert werden: wenn aber das Laſter auf meine Sinnlichkeit wirkt, wenn ich Böſes ſehe und höre, wenn ich mich durch dieſes öftere Sehen und Hören
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Die Macht und der Einfluß böſer Beyſpiele.
tadelns- als lobenswürdige Beyſpiele zuſehen, und
dadurch mehr zum Laſter als zur Tugend geführt zu
werden.
Ja, es iſt gewiß, daß die meiſten laſterhaften
Menſchen ſchon in ihren jungen Jahren und auf die-
ſem Wege verdorben werden. Denn es giebt nur
ſehr wenige, die einen ſo ſchwachen und eingeſchränk-
ten Verſtand haben, daß ſie ihre Pflichten und die
Verbindlichkeiten zu denſelben nicht begreiffen könnten;
nur ſehr wenige, die gar keinen Unterricht in der Re-
ligion genöſſen und in Abſicht auf das, was Tugend
iſt, ganz unwiſſend blieben. Aber wie viele giebt es
nicht, die bey den beſten Kenntniſſen und bey dem
ſorgfältigſten Religionsunterrichte doch laſterhaft han-
deln, weil ſie wenige Beyſpiele der Rechtſchaffenheit
und Tugend vor ſich hatten, nach welchen ſie ſich bil-
den konnten, weil ſie, ohne daß ſie es wollten und
blos durch die verkehrte und ſtraf barſte Denkungsart
ihrer Geſellſchafter und Freunde zu eben den ſchlechten
niedrigen Geſinnungen verleitet wurden?
O welche Vorſicht, welche Behutſamkeit habe
ich nicht in dem Umgange mit andern nöthig! Wie
ſorgfältig muß ich da nicht über mich wachen, um
unter Böſen oder Leichtſinnigen nicht ſelbſt böſe und
leichtſinnig zu werden! Ich kann mit dem größten
Fleiße im Chriſtenthume unterrichtet, ich kann von
meinen Aeltern und Lehrern ernſtlich zur Tugend er-
muntert werden: wenn aber das Laſter auf meine
Sinnlichkeit wirkt, wenn ich Böſes ſehe und höre,
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/68>, abgerufen am 28.06.2024.
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