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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Morgengebet einer Mutter.

Ja, jeder Tag ist für ein vernünftiges, denken-
des, moralisches Geschöpf von der größten Wichtig-
keit. Und wie könnte dieses anders seyn, da ein sol-
ches Geschöpf an einem einzigen Tage sich seinem
Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon
entfernen, viel Gutes und viel Böses thun und beför-
dern, viel Glückseligkeit genießen und verbreiten, viel
Elend empfinden und über andere verhängen kann!
Welch eine lange, unzertrennliche Kette ist nicht unser
Leben! Wie genau hängen nicht alle unsre Gedanken
und Neigungen mit einander zusammen! Wie noth-
wendig folgt nicht Ein Wunsch aus dem andern und
Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil
veranlasset nicht mehrere Urtheile und welche That er-
zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie-
ler Gedanken und Neigungen und Wünsche und Be-
gierden und Urtheile und Thaten sind wir nicht an ei-
nem einzigen Tage fähig, da unser Geist nie rastet
und stets mit etwas, sey es gut oder böse, beschäffti-
get ist! Welch eine lange Reihe von guten Folgen
kann also Ein Tag für mich haben, an dem ich alle
meine Pflichten recht gewissenhaft erfülle, an dem ich
jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern,
benutze, an dem ich jedes Böse, wenn es in meiner
Macht stehet, verhindere, an dem ich so denke und
handle, wie ich als ein vernünftiger und unsterblicher
Mensch und als eine Schülerin des Christenthums
denken und handeln soll! Und welch eine fürchter-
liche, unübersehbare Reihe von bösen Wirkungen, von
Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann

nicht
Morgengebet einer Mutter.

Ja, jeder Tag iſt für ein vernünftiges, denken-
des, moraliſches Geſchöpf von der größten Wichtig-
keit. Und wie könnte dieſes anders ſeyn, da ein ſol-
ches Geſchöpf an einem einzigen Tage ſich ſeinem
Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon
entfernen, viel Gutes und viel Böſes thun und beför-
dern, viel Glückſeligkeit genießen und verbreiten, viel
Elend empfinden und über andere verhängen kann!
Welch eine lange, unzertrennliche Kette iſt nicht unſer
Leben! Wie genau hängen nicht alle unſre Gedanken
und Neigungen mit einander zuſammen! Wie noth-
wendig folgt nicht Ein Wunſch aus dem andern und
Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil
veranlaſſet nicht mehrere Urtheile und welche That er-
zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie-
ler Gedanken und Neigungen und Wünſche und Be-
gierden und Urtheile und Thaten ſind wir nicht an ei-
nem einzigen Tage fähig, da unſer Geiſt nie raſtet
und ſtets mit etwas, ſey es gut oder böſe, beſchäffti-
get iſt! Welch eine lange Reihe von guten Folgen
kann alſo Ein Tag für mich haben, an dem ich alle
meine Pflichten recht gewiſſenhaft erfülle, an dem ich
jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern,
benutze, an dem ich jedes Böſe, wenn es in meiner
Macht ſtehet, verhindere, an dem ich ſo denke und
handle, wie ich als ein vernünftiger und unſterblicher
Menſch und als eine Schülerin des Chriſtenthums
denken und handeln ſoll! Und welch eine fürchter-
liche, unüberſehbare Reihe von böſen Wirkungen, von
Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann

nicht
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[320/0332] Morgengebet einer Mutter. Ja, jeder Tag iſt für ein vernünftiges, denken- des, moraliſches Geſchöpf von der größten Wichtig- keit. Und wie könnte dieſes anders ſeyn, da ein ſol- ches Geſchöpf an einem einzigen Tage ſich ſeinem Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon entfernen, viel Gutes und viel Böſes thun und beför- dern, viel Glückſeligkeit genießen und verbreiten, viel Elend empfinden und über andere verhängen kann! Welch eine lange, unzertrennliche Kette iſt nicht unſer Leben! Wie genau hängen nicht alle unſre Gedanken und Neigungen mit einander zuſammen! Wie noth- wendig folgt nicht Ein Wunſch aus dem andern und Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil veranlaſſet nicht mehrere Urtheile und welche That er- zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie- ler Gedanken und Neigungen und Wünſche und Be- gierden und Urtheile und Thaten ſind wir nicht an ei- nem einzigen Tage fähig, da unſer Geiſt nie raſtet und ſtets mit etwas, ſey es gut oder böſe, beſchäffti- get iſt! Welch eine lange Reihe von guten Folgen kann alſo Ein Tag für mich haben, an dem ich alle meine Pflichten recht gewiſſenhaft erfülle, an dem ich jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern, benutze, an dem ich jedes Böſe, wenn es in meiner Macht ſtehet, verhindere, an dem ich ſo denke und handle, wie ich als ein vernünftiger und unſterblicher Menſch und als eine Schülerin des Chriſtenthums denken und handeln ſoll! Und welch eine fürchter- liche, unüberſehbare Reihe von böſen Wirkungen, von Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann nicht

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/332>, abgerufen am 24.11.2024.