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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Bey einem lasterhaften Kinde.
art meines Kindes beygetragen, ob ich nicht durch
eine fehlerhafte Erziehung vieles selbst hierbey ver-
schuldet habe! Bin ich mir auch gleich keines Ver-
brechens und keiner wirklichen Verletzung der Tugend
bewußt; darf ich mir gleich nicht den Vorwurf machen,
daß ich diesem Kinde ein böses, verführerisches Bey-
spiel gegeben und dadurch den ersten Grund zu seinen
Ausschweifungen und Lastern gelegt habe: so bin ich
doch deßwegen noch nicht völlig gerechtfertiget. Vielleicht
hat meine übertriebene Gelindigkeit, vielleicht hat mei-
ne allzu große Strenge Schaden gestiftet. Vielleicht
ist dieß Kind in frühen Jahren von uns allen auf
eine seinem Temperamente widersprechende Art behan-
delt worden. Ja, wenn dieß alles nicht der Fall ist,
wenn ich mir auch keinen Leichtsinn und keine groben
und offenbaren Fehler bey der Erziehung desselben vor-
zuwerfen habe, so bleibt es dennoch eine sehr traurige
und niederschlagende Empfindung, die Mutter eines
Kindes zu seyn, das deinen Geboten zuwider handelt,
das von Einem Laster zu dem andern fortgeht, das
der Gesellschaft zur Last ist und früher oder später in
die Hände der strafenden Gerechtigkeit fällt. Wo ist
irgend ein Glück, das nicht durch diese Vorstellung
unterbrochen, wo ist irgend eine Freude, die mir nicht
dadurch verbittert, wo ist ein Tag, an dem mir nicht
irgend ein neuer Kummer verursachet wird?

Ferne sey es jedoch von mir, blos in müßige
Klagen auszubrechen oder eine unthätige Zuschauerin
der Laster meines Kindes zu seyn. Dadurch kann

ich

Bey einem laſterhaften Kinde.
art meines Kindes beygetragen, ob ich nicht durch
eine fehlerhafte Erziehung vieles ſelbſt hierbey ver-
ſchuldet habe! Bin ich mir auch gleich keines Ver-
brechens und keiner wirklichen Verletzung der Tugend
bewußt; darf ich mir gleich nicht den Vorwurf machen,
daß ich dieſem Kinde ein böſes, verführeriſches Bey-
ſpiel gegeben und dadurch den erſten Grund zu ſeinen
Ausſchweifungen und Laſtern gelegt habe: ſo bin ich
doch deßwegen noch nicht völlig gerechtfertiget. Vielleicht
hat meine übertriebene Gelindigkeit, vielleicht hat mei-
ne allzu große Strenge Schaden geſtiftet. Vielleicht
iſt dieß Kind in frühen Jahren von uns allen auf
eine ſeinem Temperamente widerſprechende Art behan-
delt worden. Ja, wenn dieß alles nicht der Fall iſt,
wenn ich mir auch keinen Leichtſinn und keine groben
und offenbaren Fehler bey der Erziehung deſſelben vor-
zuwerfen habe, ſo bleibt es dennoch eine ſehr traurige
und niederſchlagende Empfindung, die Mutter eines
Kindes zu ſeyn, das deinen Geboten zuwider handelt,
das von Einem Laſter zu dem andern fortgeht, das
der Geſellſchaft zur Laſt iſt und früher oder ſpäter in
die Hände der ſtrafenden Gerechtigkeit fällt. Wo iſt
irgend ein Glück, das nicht durch dieſe Vorſtellung
unterbrochen, wo iſt irgend eine Freude, die mir nicht
dadurch verbittert, wo iſt ein Tag, an dem mir nicht
irgend ein neuer Kummer verurſachet wird?

Ferne ſey es jedoch von mir, blos in müßige
Klagen auszubrechen oder eine unthätige Zuſchauerin
der Laſter meines Kindes zu ſeyn. Dadurch kann

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[290/0302] Bey einem laſterhaften Kinde. art meines Kindes beygetragen, ob ich nicht durch eine fehlerhafte Erziehung vieles ſelbſt hierbey ver- ſchuldet habe! Bin ich mir auch gleich keines Ver- brechens und keiner wirklichen Verletzung der Tugend bewußt; darf ich mir gleich nicht den Vorwurf machen, daß ich dieſem Kinde ein böſes, verführeriſches Bey- ſpiel gegeben und dadurch den erſten Grund zu ſeinen Ausſchweifungen und Laſtern gelegt habe: ſo bin ich doch deßwegen noch nicht völlig gerechtfertiget. Vielleicht hat meine übertriebene Gelindigkeit, vielleicht hat mei- ne allzu große Strenge Schaden geſtiftet. Vielleicht iſt dieß Kind in frühen Jahren von uns allen auf eine ſeinem Temperamente widerſprechende Art behan- delt worden. Ja, wenn dieß alles nicht der Fall iſt, wenn ich mir auch keinen Leichtſinn und keine groben und offenbaren Fehler bey der Erziehung deſſelben vor- zuwerfen habe, ſo bleibt es dennoch eine ſehr traurige und niederſchlagende Empfindung, die Mutter eines Kindes zu ſeyn, das deinen Geboten zuwider handelt, das von Einem Laſter zu dem andern fortgeht, das der Geſellſchaft zur Laſt iſt und früher oder ſpäter in die Hände der ſtrafenden Gerechtigkeit fällt. Wo iſt irgend ein Glück, das nicht durch dieſe Vorſtellung unterbrochen, wo iſt irgend eine Freude, die mir nicht dadurch verbittert, wo iſt ein Tag, an dem mir nicht irgend ein neuer Kummer verurſachet wird? Ferne ſey es jedoch von mir, blos in müßige Klagen auszubrechen oder eine unthätige Zuſchauerin der Laſter meines Kindes zu ſeyn. Dadurch kann ich

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/302>, abgerufen am 27.09.2024.