Freylich schmerzer und beunruhiget mich die Le- bensart dieses Kindes mehr als alles. Jch betrübe mich täglich, wenn ich dasselbe bey seinen verkehrten Gesinnungen beharren und sich immer tiefer in die La- byrinthe der Lasterhaftigkeit und des Verderbens ver- irren sehe. Mein Schmerz und meine Betrübnis entstehen nicht so wohl daher, weil meine mütterlichen Vorschriften verachtet und vernachlässiget werden, weil mich dieses Kind durch Mangel der Liebe und durch Ungehorsam beleidiget, weil es die gebührende Ach- tung und Ehrerbietung gegen mich aus den Augen setzet; wiewohl auch schon dieser Gedanke äusserst nie- derschlagend für mich ist. Aber nein; es schmerzet und betrübet mich, weil ich ein vernünftiges Geschöpf, das dein Bild an sich trägt, so tief von seiner Wür- de herabsinken, weil ich einen unsterblichen Menschen seine große und erhabene Bestimmung vergessen, weil ich einen Christen allen Grundsätzen seiner Religion zuwider handeln, weil ich mein Kind, dem ich das Leben gab und das ich doch bey allen seinen Lastern liebe, dem unvermeidlichsten Elende zueilen sehe. O wie gegründet ist dieser Schmerz! wie gerecht diese Betrübnis! Was hat der Mensch weiter zu verlie- ren, worauf kann er noch rechnen, wenn er seine Un- schuld und Tugend, seine Ruhe und sein gutes Gewis- sen verloren hat?
Und wie unruhig, wie verlegen muß ich nicht als Mutter darüber seyn, ob ich nicht vielleicht selbst viel zu der leichtsinnigen und lasterhaften Denkungs-
art
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Bey einem laſterhaften Kinde.
Freylich ſchmerzer und beunruhiget mich die Le- bensart dieſes Kindes mehr als alles. Jch betrübe mich täglich, wenn ich daſſelbe bey ſeinen verkehrten Geſinnungen beharren und ſich immer tiefer in die La- byrinthe der Laſterhaftigkeit und des Verderbens ver- irren ſehe. Mein Schmerz und meine Betrübnis entſtehen nicht ſo wohl daher, weil meine mütterlichen Vorſchriften verachtet und vernachläſſiget werden, weil mich dieſes Kind durch Mangel der Liebe und durch Ungehorſam beleidiget, weil es die gebührende Ach- tung und Ehrerbietung gegen mich aus den Augen ſetzet; wiewohl auch ſchon dieſer Gedanke äuſſerſt nie- derſchlagend für mich iſt. Aber nein; es ſchmerzet und betrübet mich, weil ich ein vernünftiges Geſchöpf, das dein Bild an ſich trägt, ſo tief von ſeiner Wür- de herabſinken, weil ich einen unſterblichen Menſchen ſeine große und erhabene Beſtimmung vergeſſen, weil ich einen Chriſten allen Grundſätzen ſeiner Religion zuwider handeln, weil ich mein Kind, dem ich das Leben gab und das ich doch bey allen ſeinen Laſtern liebe, dem unvermeidlichſten Elende zueilen ſehe. O wie gegründet iſt dieſer Schmerz! wie gerecht dieſe Betrübnis! Was hat der Menſch weiter zu verlie- ren, worauf kann er noch rechnen, wenn er ſeine Un- ſchuld und Tugend, ſeine Ruhe und ſein gutes Gewiſ- ſen verloren hat?
Und wie unruhig, wie verlegen muß ich nicht als Mutter darüber ſeyn, ob ich nicht vielleicht ſelbſt viel zu der leichtſinnigen und laſterhaften Denkungs-
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Bey einem laſterhaften Kinde.
Freylich ſchmerzer und beunruhiget mich die Le-
bensart dieſes Kindes mehr als alles. Jch betrübe
mich täglich, wenn ich daſſelbe bey ſeinen verkehrten
Geſinnungen beharren und ſich immer tiefer in die La-
byrinthe der Laſterhaftigkeit und des Verderbens ver-
irren ſehe. Mein Schmerz und meine Betrübnis
entſtehen nicht ſo wohl daher, weil meine mütterlichen
Vorſchriften verachtet und vernachläſſiget werden, weil
mich dieſes Kind durch Mangel der Liebe und durch
Ungehorſam beleidiget, weil es die gebührende Ach-
tung und Ehrerbietung gegen mich aus den Augen
ſetzet; wiewohl auch ſchon dieſer Gedanke äuſſerſt nie-
derſchlagend für mich iſt. Aber nein; es ſchmerzet
und betrübet mich, weil ich ein vernünftiges Geſchöpf,
das dein Bild an ſich trägt, ſo tief von ſeiner Wür-
de herabſinken, weil ich einen unſterblichen Menſchen
ſeine große und erhabene Beſtimmung vergeſſen, weil
ich einen Chriſten allen Grundſätzen ſeiner Religion
zuwider handeln, weil ich mein Kind, dem ich das
Leben gab und das ich doch bey allen ſeinen Laſtern
liebe, dem unvermeidlichſten Elende zueilen ſehe. O
wie gegründet iſt dieſer Schmerz! wie gerecht dieſe
Betrübnis! Was hat der Menſch weiter zu verlie-
ren, worauf kann er noch rechnen, wenn er ſeine Un-
ſchuld und Tugend, ſeine Ruhe und ſein gutes Gewiſ-
ſen verloren hat?
Und wie unruhig, wie verlegen muß ich nicht
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/301>, abgerufen am 30.06.2024.
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