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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Ermunterung zur Lernbegierde.
noch lange nicht das wirkliche Vernünftigseyn. Ganz
gewiß würde ich mich in vielen Stücken nicht weit
über die Thiere erheben, ja in mancher Rücksicht gar
unter ihnen stehen, wenn deine weise Güte nicht die
Veranstaltung getroffen hätte, daß der Keim meines
Verstandes unter der Aufsicht und Pflege älterer und
weiser Menschen entwickelt, und mein Geist mit man-
nichfaltigen, nützlichen Kenntnissen bereichert werden
sollte.

Dieß also, o Gott, ist deine Einrichtung, dein
Wille. Ich soll lernen und auf diesem Wege verstän-
dig werden. Zu dem Ende hast du mir den stärksten
unüberwindlichsten Trieb dazu ins Herz gelegt. Ich
fühle eine immer rege Neigung, eine Begierde in mir,
tausend Dinge in der Welt zu kennen, und ihre Be-
schaffenheit, ihre Absichten, ihren Nutzen zu erfah-
ren. Meine Unwissenheit ist mir allezeit unangenehm;
und ich empfinde stets das lebhafteste Vergnügen,
wenn ich eine Sache besser und deutlicher verstehen ge-
lernt habe, wenn ich meine Einsichten wachsen sehe und
mich dadurch ältern und klügern Personen nähere. --
O möchte ich diese Freude täglich, und immer stär-
ker fühlen! Möchte sie mich zu einem immer größern
und anhaltendern Fleiße ermuntern! Möchte ich diesel-
be oft mit andern Vergnügungen, die ich im Spiele
oder im Müssiggange zu finden glaube, vergleichen,
und es einsehen lernen, daß sie die edelste und dauer-
hafteste ist, weil sie nie Schmerz und unangenehme
Empfindungen zurückläßt, daß ich in meinen itzigen Jah-
ren keiner größern und anständigern fähig bin!

Dank

Ermunterung zur Lernbegierde.
noch lange nicht das wirkliche Vernünftigſeyn. Ganz
gewiß würde ich mich in vielen Stücken nicht weit
über die Thiere erheben, ja in mancher Rückſicht gar
unter ihnen ſtehen, wenn deine weiſe Güte nicht die
Veranſtaltung getroffen hätte, daß der Keim meines
Verſtandes unter der Aufſicht und Pflege älterer und
weiſer Menſchen entwickelt, und mein Geiſt mit man-
nichfaltigen, nützlichen Kenntniſſen bereichert werden
ſollte.

Dieß alſo, o Gott, iſt deine Einrichtung, dein
Wille. Ich ſoll lernen und auf dieſem Wege verſtän-
dig werden. Zu dem Ende haſt du mir den ſtärkſten
unüberwindlichſten Trieb dazu ins Herz gelegt. Ich
fühle eine immer rege Neigung, eine Begierde in mir,
tauſend Dinge in der Welt zu kennen, und ihre Be-
ſchaffenheit, ihre Abſichten, ihren Nutzen zu erfah-
ren. Meine Unwiſſenheit iſt mir allezeit unangenehm;
und ich empfinde ſtets das lebhafteſte Vergnügen,
wenn ich eine Sache beſſer und deutlicher verſtehen ge-
lernt habe, wenn ich meine Einſichten wachſen ſehe und
mich dadurch ältern und klügern Perſonen nähere. —
O möchte ich dieſe Freude täglich, und immer ſtär-
ker fühlen! Möchte ſie mich zu einem immer größern
und anhaltendern Fleiße ermuntern! Möchte ich dieſel-
be oft mit andern Vergnügungen, die ich im Spiele
oder im Müſſiggange zu finden glaube, vergleichen,
und es einſehen lernen, daß ſie die edelſte und dauer-
hafteſte iſt, weil ſie nie Schmerz und unangenehme
Empfindungen zurückläßt, daß ich in meinen itzigen Jah-
ren keiner größern und anſtändigern fähig bin!

Dank
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[15/0027] Ermunterung zur Lernbegierde. noch lange nicht das wirkliche Vernünftigſeyn. Ganz gewiß würde ich mich in vielen Stücken nicht weit über die Thiere erheben, ja in mancher Rückſicht gar unter ihnen ſtehen, wenn deine weiſe Güte nicht die Veranſtaltung getroffen hätte, daß der Keim meines Verſtandes unter der Aufſicht und Pflege älterer und weiſer Menſchen entwickelt, und mein Geiſt mit man- nichfaltigen, nützlichen Kenntniſſen bereichert werden ſollte. Dieß alſo, o Gott, iſt deine Einrichtung, dein Wille. Ich ſoll lernen und auf dieſem Wege verſtän- dig werden. Zu dem Ende haſt du mir den ſtärkſten unüberwindlichſten Trieb dazu ins Herz gelegt. Ich fühle eine immer rege Neigung, eine Begierde in mir, tauſend Dinge in der Welt zu kennen, und ihre Be- ſchaffenheit, ihre Abſichten, ihren Nutzen zu erfah- ren. Meine Unwiſſenheit iſt mir allezeit unangenehm; und ich empfinde ſtets das lebhafteſte Vergnügen, wenn ich eine Sache beſſer und deutlicher verſtehen ge- lernt habe, wenn ich meine Einſichten wachſen ſehe und mich dadurch ältern und klügern Perſonen nähere. — O möchte ich dieſe Freude täglich, und immer ſtär- ker fühlen! Möchte ſie mich zu einem immer größern und anhaltendern Fleiße ermuntern! Möchte ich dieſel- be oft mit andern Vergnügungen, die ich im Spiele oder im Müſſiggange zu finden glaube, vergleichen, und es einſehen lernen, daß ſie die edelſte und dauer- hafteſte iſt, weil ſie nie Schmerz und unangenehme Empfindungen zurückläßt, daß ich in meinen itzigen Jah- ren keiner größern und anſtändigern fähig bin! Dank

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/27>, abgerufen am 25.11.2024.