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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Die kinderlose Gattin.
sie kennet auch mich und meine Kräfte auf das ge-
naueste. Du kannst dich nie irren; aber ich irre mich
so oft, als ich deine weise Regierung zu tadeln wage.
Du weißt am besten, was zu meiner Vollkommenheit
und Glückseligkeit dienet; aber ich halte tausendmal
das Böse für gut und das Schädliche für nützlich.
Jch sehe nur auf den Endzweck und die Folgen der
Dinge; du siehest und kennest auch die Schwierigkeiten,
die mit dem Gebrauche der Mittel, die zu diesem End-
zwecke führen, verbunden sind.

Woher weiß ich es denn, daß ich eine gute, ei-
ne gemeinnützige, eine glückliche Mutter seyn würde?
Woran habe ich denn meine Fähigkeiten und Kräfte,
die zu dieser Absicht erfordert werden, schon geprüft
oder prüfen können? Kann ich nicht vielleicht durch die
Erziehung, welche ich erhalten habe, durch mein Tem-
perament gewisse Fehler oder auch nur Schwachheiten
an mir haben, die mich zur Erfüllung der Mutter-
pflichten unfähig und ungeschickt machen? Jst denn
das Daseyn der Kinder an sich und der bloße Anblick
derselben das, was das Vergnügen einer vernünftigen
Mutter ausmachet? Kann nicht eine fehlerhafte Er-
ziehung und Bildung, die sich auf Vorurtheile oder auf
übertriebene Zärtlichkeit gründet, eine Quelle des größ-
ten, anhaltendsten Misvergnügens und tausendfacher
Sorgen und Bekümmernisse werden? Und wie,
wenn ich bey meinem Temperamente und bey meiner
Denkungsart wirklich in diesen Fall kommen und die
traurigen Folgen einer, sey es auch nur aus Unwis-
senheit, vernachlässigten Erziehung empfinden müßte?

Oder

Die kinderloſe Gattin.
ſie kennet auch mich und meine Kräfte auf das ge-
naueſte. Du kannſt dich nie irren; aber ich irre mich
ſo oft, als ich deine weiſe Regierung zu tadeln wage.
Du weißt am beſten, was zu meiner Vollkommenheit
und Glückſeligkeit dienet; aber ich halte tauſendmal
das Böſe für gut und das Schädliche für nützlich.
Jch ſehe nur auf den Endzweck und die Folgen der
Dinge; du ſieheſt und kenneſt auch die Schwierigkeiten,
die mit dem Gebrauche der Mittel, die zu dieſem End-
zwecke führen, verbunden ſind.

Woher weiß ich es denn, daß ich eine gute, ei-
ne gemeinnützige, eine glückliche Mutter ſeyn würde?
Woran habe ich denn meine Fähigkeiten und Kräfte,
die zu dieſer Abſicht erfordert werden, ſchon geprüft
oder prüfen können? Kann ich nicht vielleicht durch die
Erziehung, welche ich erhalten habe, durch mein Tem-
perament gewiſſe Fehler oder auch nur Schwachheiten
an mir haben, die mich zur Erfüllung der Mutter-
pflichten unfähig und ungeſchickt machen? Jſt denn
das Daſeyn der Kinder an ſich und der bloße Anblick
derſelben das, was das Vergnügen einer vernünftigen
Mutter ausmachet? Kann nicht eine fehlerhafte Er-
ziehung und Bildung, die ſich auf Vorurtheile oder auf
übertriebene Zärtlichkeit gründet, eine Quelle des größ-
ten, anhaltendſten Misvergnügens und tauſendfacher
Sorgen und Bekümmerniſſe werden? Und wie,
wenn ich bey meinem Temperamente und bey meiner
Denkungsart wirklich in dieſen Fall kommen und die
traurigen Folgen einer, ſey es auch nur aus Unwiſ-
ſenheit, vernachläſſigten Erziehung empfinden müßte?

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[214/0226] Die kinderloſe Gattin. ſie kennet auch mich und meine Kräfte auf das ge- naueſte. Du kannſt dich nie irren; aber ich irre mich ſo oft, als ich deine weiſe Regierung zu tadeln wage. Du weißt am beſten, was zu meiner Vollkommenheit und Glückſeligkeit dienet; aber ich halte tauſendmal das Böſe für gut und das Schädliche für nützlich. Jch ſehe nur auf den Endzweck und die Folgen der Dinge; du ſieheſt und kenneſt auch die Schwierigkeiten, die mit dem Gebrauche der Mittel, die zu dieſem End- zwecke führen, verbunden ſind. Woher weiß ich es denn, daß ich eine gute, ei- ne gemeinnützige, eine glückliche Mutter ſeyn würde? Woran habe ich denn meine Fähigkeiten und Kräfte, die zu dieſer Abſicht erfordert werden, ſchon geprüft oder prüfen können? Kann ich nicht vielleicht durch die Erziehung, welche ich erhalten habe, durch mein Tem- perament gewiſſe Fehler oder auch nur Schwachheiten an mir haben, die mich zur Erfüllung der Mutter- pflichten unfähig und ungeſchickt machen? Jſt denn das Daſeyn der Kinder an ſich und der bloße Anblick derſelben das, was das Vergnügen einer vernünftigen Mutter ausmachet? Kann nicht eine fehlerhafte Er- ziehung und Bildung, die ſich auf Vorurtheile oder auf übertriebene Zärtlichkeit gründet, eine Quelle des größ- ten, anhaltendſten Misvergnügens und tauſendfacher Sorgen und Bekümmerniſſe werden? Und wie, wenn ich bey meinem Temperamente und bey meiner Denkungsart wirklich in dieſen Fall kommen und die traurigen Folgen einer, ſey es auch nur aus Unwiſ- ſenheit, vernachläſſigten Erziehung empfinden müßte? Oder

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/226>, abgerufen am 24.11.2024.