Gott, welche eine thörichte Leidenschaft ist nicht der Neid! Wenn andere Laster ihre schreckliche Ge- stalt verbergen und sich nur von einer vergnügenden Seite zeigen, so kündiget sich jener so gleich als den Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe an. Sein Anfang ist so schrecklich als sein Ende. Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der Liebe und des Wohlwollens aus demselben heraus, er- zeuget und begünstiget lauter feindselige, menschen- feindliche Gedanken und Anschläge, erfüllt die Seele mit Unruhe und Misvergnügen, die immer stärker und herrschender werden, und gewähret auch nicht einmal den Schein einer süßen und angenehmen Empfindung.
Und die Gegenstände, die diesen Neid rege machen, die das Glück und die Ruhe so vieler Men- schen stören, sind sie wohl so wichtig und begehrens- würdig, als sie zu seyn scheinen? Ist es die Tugend, deren Besitz dem Menschen beneidet wird? O wer die Tugend für etwas so schönes und wünschenswür- diges hält, der ist keiner Misgunst, der ist wohl einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä- hig. Sind es Verstand und Weisheit, die so viele Menschen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder und Schwestern hinsehen lassen? O wer sich durch Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl nicht als Weisheit, den Verstand nicht als Verstand, der wünscht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die äussern Vortheile, die mit einem großen Verstande
und
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Entſagung des Neides.
Gott, welche eine thörichte Leidenſchaft iſt nicht der Neid! Wenn andere Laſter ihre ſchreckliche Ge- ſtalt verbergen und ſich nur von einer vergnügenden Seite zeigen, ſo kündiget ſich jener ſo gleich als den Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe an. Sein Anfang iſt ſo ſchrecklich als ſein Ende. Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der Liebe und des Wohlwollens aus demſelben heraus, er- zeuget und begünſtiget lauter feindſelige, menſchen- feindliche Gedanken und Anſchläge, erfüllt die Seele mit Unruhe und Misvergnügen, die immer ſtärker und herrſchender werden, und gewähret auch nicht einmal den Schein einer ſüßen und angenehmen Empfindung.
Und die Gegenſtände, die dieſen Neid rege machen, die das Glück und die Ruhe ſo vieler Men- ſchen ſtören, ſind ſie wohl ſo wichtig und begehrens- würdig, als ſie zu ſeyn ſcheinen? Iſt es die Tugend, deren Beſitz dem Menſchen beneidet wird? O wer die Tugend für etwas ſo ſchönes und wünſchenswür- diges hält, der iſt keiner Misgunſt, der iſt wohl einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä- hig. Sind es Verſtand und Weisheit, die ſo viele Menſchen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder und Schweſtern hinſehen laſſen? O wer ſich durch Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl nicht als Weisheit, den Verſtand nicht als Verſtand, der wünſcht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die äuſſern Vortheile, die mit einem großen Verſtande
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Entſagung des Neides.
Gott, welche eine thörichte Leidenſchaft iſt nicht
der Neid! Wenn andere Laſter ihre ſchreckliche Ge-
ſtalt verbergen und ſich nur von einer vergnügenden
Seite zeigen, ſo kündiget ſich jener ſo gleich als den
Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe
an. Sein Anfang iſt ſo ſchrecklich als ſein Ende.
Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der
Liebe und des Wohlwollens aus demſelben heraus, er-
zeuget und begünſtiget lauter feindſelige, menſchen-
feindliche Gedanken und Anſchläge, erfüllt die Seele
mit Unruhe und Misvergnügen, die immer ſtärker
und herrſchender werden, und gewähret auch nicht
einmal den Schein einer ſüßen und angenehmen
Empfindung.
Und die Gegenſtände, die dieſen Neid rege
machen, die das Glück und die Ruhe ſo vieler Men-
ſchen ſtören, ſind ſie wohl ſo wichtig und begehrens-
würdig, als ſie zu ſeyn ſcheinen? Iſt es die Tugend,
deren Beſitz dem Menſchen beneidet wird? O wer
die Tugend für etwas ſo ſchönes und wünſchenswür-
diges hält, der iſt keiner Misgunſt, der iſt wohl
einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä-
hig. Sind es Verſtand und Weisheit, die ſo viele
Menſchen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder
und Schweſtern hinſehen laſſen? O wer ſich durch
Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl
nicht als Weisheit, den Verſtand nicht als Verſtand,
der wünſcht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die
äuſſern Vortheile, die mit einem großen Verſtande
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/149>, abgerufen am 28.06.2024.
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