Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Schaamhaftigkeit.
ich nie über die Grenzen hinaussehen, die du meiner
Natur angewiesen hast. Ich darf ja froh und gesel-
lig seyn und jedes unschuldige Vergnügen genießen.
Die Religion, die ich bekenne, ist nichts weniger
als eine finstere, menschenfeindliche Freudenstörerin.
Die Bestimmung meines Geschlechts ist ja eine höchst
angenehme Bestimmung, die ich nie besser als bey
frohem und heiterm Muthe erfüllen kann. Wie sehr
würde ich also meine Absicht verfehlen, wenn ich aus
übertriebener oder erkünstelter und heuchlerischer
Schaamhaftigkeit jeden Scherz und jede Freude ver-
dammen, mich von allen Vergnügungen ausschließen
und mir eine strengere Tugend auflegen wollte, als
du von mir forderst! Ja, dadurch würde ich die Bil-
dung meines Verstandes vernachlässigen und in mei-
nen Kenntnissen zurückbleiben. Dadurch würde ich
in Gefahr kommen, mein Herz dem Wohlwollen zu
verschließen und mich zu einer strafbaren Lieblosigkeit
in meinen Urtheilen über andere zu gewöhnen. Da-
durch würde ich mich auch solcher Dinge schämen ler-
nen, die mir zur Ehre gereichen und die ich nicht un-
terlassen kann, ohne mich von dem Wege der Pflicht
und der Tugend zu entfernen.

Nein, o Gott, ich will und muß mich nur des Bösen,
des Schädlichen, des Lasters schämen; aber diese Schaam
muß auch stets wirksam seyn und bey allen Hindernissen,
die ich antreffe, über meine Tugend und Unschuld wachen.
Ich will mir keine Handlung, keinen Schritt, kein Wort,
keinen Gedanken, keinen Wunsch, keine Begierde er-
lauben, worüber ich zu erröthen Ursache habe. Ich
will keinem Scherze, keinem Vergnügen meinen

Bey-
H

Die Schaamhaftigkeit.
ich nie über die Grenzen hinausſehen, die du meiner
Natur angewieſen haſt. Ich darf ja froh und geſel-
lig ſeyn und jedes unſchuldige Vergnügen genießen.
Die Religion, die ich bekenne, iſt nichts weniger
als eine finſtere, menſchenfeindliche Freudenſtörerin.
Die Beſtimmung meines Geſchlechts iſt ja eine höchſt
angenehme Beſtimmung, die ich nie beſſer als bey
frohem und heiterm Muthe erfüllen kann. Wie ſehr
würde ich alſo meine Abſicht verfehlen, wenn ich aus
übertriebener oder erkünſtelter und heuchleriſcher
Schaamhaftigkeit jeden Scherz und jede Freude ver-
dammen, mich von allen Vergnügungen ausſchließen
und mir eine ſtrengere Tugend auflegen wollte, als
du von mir forderſt! Ja, dadurch würde ich die Bil-
dung meines Verſtandes vernachläſſigen und in mei-
nen Kenntniſſen zurückbleiben. Dadurch würde ich
in Gefahr kommen, mein Herz dem Wohlwollen zu
verſchließen und mich zu einer ſtrafbaren Liebloſigkeit
in meinen Urtheilen über andere zu gewöhnen. Da-
durch würde ich mich auch ſolcher Dinge ſchämen ler-
nen, die mir zur Ehre gereichen und die ich nicht un-
terlaſſen kann, ohne mich von dem Wege der Pflicht
und der Tugend zu entfernen.

Nein, o Gott, ich will und muß mich nur des Böſen,
des Schädlichen, des Laſters ſchämen; aber dieſe Schaam
muß auch ſtets wirkſam ſeyn und bey allen Hinderniſſen,
die ich antreffe, über meine Tugend und Unſchuld wachen.
Ich will mir keine Handlung, keinen Schritt, kein Wort,
keinen Gedanken, keinen Wunſch, keine Begierde er-
lauben, worüber ich zu erröthen Urſache habe. Ich
will keinem Scherze, keinem Vergnügen meinen

Bey-
H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0125" n="113"/><fw place="top" type="header">Die Schaamhaftigkeit.</fw><lb/>
ich nie über die Grenzen hinaus&#x017F;ehen, die du meiner<lb/>
Natur angewie&#x017F;en ha&#x017F;t. Ich darf ja froh und ge&#x017F;el-<lb/>
lig &#x017F;eyn und jedes un&#x017F;chuldige Vergnügen genießen.<lb/>
Die Religion, die ich bekenne, i&#x017F;t nichts weniger<lb/>
als eine fin&#x017F;tere, men&#x017F;chenfeindliche Freuden&#x017F;törerin.<lb/>
Die Be&#x017F;timmung meines Ge&#x017F;chlechts i&#x017F;t ja eine höch&#x017F;t<lb/>
angenehme Be&#x017F;timmung, die ich nie be&#x017F;&#x017F;er als bey<lb/>
frohem und heiterm Muthe erfüllen kann. Wie &#x017F;ehr<lb/>
würde ich al&#x017F;o meine Ab&#x017F;icht verfehlen, wenn ich aus<lb/>
übertriebener oder erkün&#x017F;telter und heuchleri&#x017F;cher<lb/>
Schaamhaftigkeit jeden Scherz und jede Freude ver-<lb/>
dammen, mich von allen Vergnügungen aus&#x017F;chließen<lb/>
und mir eine &#x017F;trengere Tugend auflegen wollte, als<lb/>
du von mir forder&#x017F;t! Ja, dadurch würde ich die Bil-<lb/>
dung meines Ver&#x017F;tandes vernachlä&#x017F;&#x017F;igen und in mei-<lb/>
nen Kenntni&#x017F;&#x017F;en zurückbleiben. Dadurch würde ich<lb/>
in Gefahr kommen, mein Herz dem Wohlwollen zu<lb/>
ver&#x017F;chließen und mich zu einer &#x017F;trafbaren Lieblo&#x017F;igkeit<lb/>
in meinen Urtheilen über andere zu gewöhnen. Da-<lb/>
durch würde ich mich auch &#x017F;olcher Dinge &#x017F;chämen ler-<lb/>
nen, die mir zur Ehre gereichen und die ich nicht un-<lb/>
terla&#x017F;&#x017F;en kann, ohne mich von dem Wege der Pflicht<lb/>
und der Tugend zu entfernen.</p><lb/>
          <p>Nein, o Gott, ich will und muß mich nur des Bö&#x017F;en,<lb/>
des Schädlichen, des La&#x017F;ters &#x017F;chämen; aber die&#x017F;e Schaam<lb/>
muß auch &#x017F;tets wirk&#x017F;am &#x017F;eyn und bey allen Hinderni&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
die ich antreffe, über meine Tugend und Un&#x017F;chuld wachen.<lb/>
Ich will mir keine Handlung, keinen Schritt, kein Wort,<lb/>
keinen Gedanken, keinen Wun&#x017F;ch, keine Begierde er-<lb/>
lauben, worüber ich zu erröthen Ur&#x017F;ache habe. Ich<lb/>
will keinem Scherze, keinem Vergnügen meinen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H</fw><fw place="bottom" type="catch">Bey-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0125] Die Schaamhaftigkeit. ich nie über die Grenzen hinausſehen, die du meiner Natur angewieſen haſt. Ich darf ja froh und geſel- lig ſeyn und jedes unſchuldige Vergnügen genießen. Die Religion, die ich bekenne, iſt nichts weniger als eine finſtere, menſchenfeindliche Freudenſtörerin. Die Beſtimmung meines Geſchlechts iſt ja eine höchſt angenehme Beſtimmung, die ich nie beſſer als bey frohem und heiterm Muthe erfüllen kann. Wie ſehr würde ich alſo meine Abſicht verfehlen, wenn ich aus übertriebener oder erkünſtelter und heuchleriſcher Schaamhaftigkeit jeden Scherz und jede Freude ver- dammen, mich von allen Vergnügungen ausſchließen und mir eine ſtrengere Tugend auflegen wollte, als du von mir forderſt! Ja, dadurch würde ich die Bil- dung meines Verſtandes vernachläſſigen und in mei- nen Kenntniſſen zurückbleiben. Dadurch würde ich in Gefahr kommen, mein Herz dem Wohlwollen zu verſchließen und mich zu einer ſtrafbaren Liebloſigkeit in meinen Urtheilen über andere zu gewöhnen. Da- durch würde ich mich auch ſolcher Dinge ſchämen ler- nen, die mir zur Ehre gereichen und die ich nicht un- terlaſſen kann, ohne mich von dem Wege der Pflicht und der Tugend zu entfernen. Nein, o Gott, ich will und muß mich nur des Böſen, des Schädlichen, des Laſters ſchämen; aber dieſe Schaam muß auch ſtets wirkſam ſeyn und bey allen Hinderniſſen, die ich antreffe, über meine Tugend und Unſchuld wachen. Ich will mir keine Handlung, keinen Schritt, kein Wort, keinen Gedanken, keinen Wunſch, keine Begierde er- lauben, worüber ich zu erröthen Urſache habe. Ich will keinem Scherze, keinem Vergnügen meinen Bey- H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/125
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/125>, abgerufen am 24.11.2024.