misst, und wer eine Bienenzelle gesehen hat, welche ziemlich rohe und nicht spiegelnde Flächen hat, der wird es bezweifeln, dass man beim Messen der Zellen eine Genauigkeit von zwei Minuten erreichen kann. Man muss also die Geschichte für ein frommes mathe- matisches Märchen halten, abgesehen davon, dass nichts daraus folgt, wenn sie wahr ist. Nebenbei sei bemerkt, dass die Aufgabe mathematisch zu unvollständig ge- stellt worden ist, um beurtheilen zu können, wie weit die Bienen sie gelöst haben.
Die im vorigen Kapitel erwähnten Ideen von Heron und Fermat über die Lichtbewegung erhielten durch Leibnitz sofort eine theologische Färbung und spielten, wie erwähnt, eine hervorragende Rolle bei Entwickelung der Variationsrechnung. In Leibnitzens Briefwechsel mit Johann Bernoulli werden unter mathematischen wiederholt auch theologische Fragen berührt. Nicht selten wird auch in biblischen Bildern gesprochen. So sagt z. B. Leibnitz, das Problem der Brachystochrone hätte ihn angezogen wie der Apfel die Eva.
Maupertuis, der bekannte Präsident der berliner Akademie und Günstling Friedrich's des Grossen, hat der theologisirenden Richtung der Physik einen neuen Anstoss gegeben durch Aufstellung seines Princips der kleinsten Wirkung. In der Schrift, welche die Auf- stellung dieses Princips enthält, und zwar in sehr unbe- stimmter Form, und in welcher Maupertuis einen ent- schiedenen Mangel an mathematischer Schärfe zeigt, erklärt er sein Princip für dasjenige, welches der Weis- heit des Schöpfers am besten entspräche. Maupertuis war geistreich, aber kein starker Kopf, er war ein Pro- jectenmacher. Dies zeigen seine kühnen Vorschläge, eine Stadt zu gründen, in der blos lateinisch gesprochen würde, ein grosses, tiefes Loch in die Erde zu graben, um neue Stoffe zu finden, psychologische Untersuchungen mit Hülfe des Opiums und der Section von Affen an- zustellen, die Bildung des Embryo durch die Gravi- tation zu erklären u. s. w. Er ist von Voltaire
Die formelle Entwickelung der Mechanik.
misst, und wer eine Bienenzelle gesehen hat, welche ziemlich rohe und nicht spiegelnde Flächen hat, der wird es bezweifeln, dass man beim Messen der Zellen eine Genauigkeit von zwei Minuten erreichen kann. Man muss also die Geschichte für ein frommes mathe- matisches Märchen halten, abgesehen davon, dass nichts daraus folgt, wenn sie wahr ist. Nebenbei sei bemerkt, dass die Aufgabe mathematisch zu unvollständig ge- stellt worden ist, um beurtheilen zu können, wie weit die Bienen sie gelöst haben.
Die im vorigen Kapitel erwähnten Ideen von Heron und Fermat über die Lichtbewegung erhielten durch Leibnitz sofort eine theologische Färbung und spielten, wie erwähnt, eine hervorragende Rolle bei Entwickelung der Variationsrechnung. In Leibnitzens Briefwechsel mit Johann Bernoulli werden unter mathematischen wiederholt auch theologische Fragen berührt. Nicht selten wird auch in biblischen Bildern gesprochen. So sagt z. B. Leibnitz, das Problem der Brachystochrone hätte ihn angezogen wie der Apfel die Eva.
Maupertuis, der bekannte Präsident der berliner Akademie und Günstling Friedrich’s des Grossen, hat der theologisirenden Richtung der Physik einen neuen Anstoss gegeben durch Aufstellung seines Princips der kleinsten Wirkung. In der Schrift, welche die Auf- stellung dieses Princips enthält, und zwar in sehr unbe- stimmter Form, und in welcher Maupertuis einen ent- schiedenen Mangel an mathematischer Schärfe zeigt, erklärt er sein Princip für dasjenige, welches der Weis- heit des Schöpfers am besten entspräche. Maupertuis war geistreich, aber kein starker Kopf, er war ein Pro- jectenmacher. Dies zeigen seine kühnen Vorschläge, eine Stadt zu gründen, in der blos lateinisch gesprochen würde, ein grosses, tiefes Loch in die Erde zu graben, um neue Stoffe zu finden, psychologische Untersuchungen mit Hülfe des Opiums und der Section von Affen an- zustellen, die Bildung des Embryo durch die Gravi- tation zu erklären u. s. w. Er ist von Voltaire
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Die formelle Entwickelung der Mechanik.
misst, und wer eine Bienenzelle gesehen hat, welche
ziemlich rohe und nicht spiegelnde Flächen hat, der
wird es bezweifeln, dass man beim Messen der Zellen
eine Genauigkeit von zwei Minuten erreichen kann.
Man muss also die Geschichte für ein frommes mathe-
matisches Märchen halten, abgesehen davon, dass nichts
daraus folgt, wenn sie wahr ist. Nebenbei sei bemerkt,
dass die Aufgabe mathematisch zu unvollständig ge-
stellt worden ist, um beurtheilen zu können, wie weit
die Bienen sie gelöst haben.
Die im vorigen Kapitel erwähnten Ideen von Heron
und Fermat über die Lichtbewegung erhielten durch
Leibnitz sofort eine theologische Färbung und spielten,
wie erwähnt, eine hervorragende Rolle bei Entwickelung
der Variationsrechnung. In Leibnitzens Briefwechsel
mit Johann Bernoulli werden unter mathematischen
wiederholt auch theologische Fragen berührt. Nicht
selten wird auch in biblischen Bildern gesprochen. So
sagt z. B. Leibnitz, das Problem der Brachystochrone
hätte ihn angezogen wie der Apfel die Eva.
Maupertuis, der bekannte Präsident der berliner
Akademie und Günstling Friedrich’s des Grossen, hat
der theologisirenden Richtung der Physik einen neuen
Anstoss gegeben durch Aufstellung seines Princips der
kleinsten Wirkung. In der Schrift, welche die Auf-
stellung dieses Princips enthält, und zwar in sehr unbe-
stimmter Form, und in welcher Maupertuis einen ent-
schiedenen Mangel an mathematischer Schärfe zeigt,
erklärt er sein Princip für dasjenige, welches der Weis-
heit des Schöpfers am besten entspräche. Maupertuis
war geistreich, aber kein starker Kopf, er war ein Pro-
jectenmacher. Dies zeigen seine kühnen Vorschläge, eine
Stadt zu gründen, in der blos lateinisch gesprochen
würde, ein grosses, tiefes Loch in die Erde zu graben,
um neue Stoffe zu finden, psychologische Untersuchungen
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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/439>, abgerufen am 23.11.2024.
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