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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.
entdeckte. In der That drückt man seit Lagrange all-
gemeinere mechanische Sätze gern in Form von Maximum-
Minimumsätzen aus. Diese Vorliebe bliebe unverständ-
lich ohne Kenntniss der historischen Entwickelung.

2. Theologische animistische und mystische Gesichtspunkte
in der Mechanik.

1. Wenn wir in eine Gesellschaft eintreten, in welcher
eben von einem recht frommen Manne die Rede ist,
dessen Namen wir nicht gehört haben, so werden wir
an den Geheimrath X oder den Herrn v. Y denken,
wir werden aber schwerlich zuerst und zunächst auf
einen tüchtigen Naturforscher rathen. Dennoch wäre
es ein Irrthum zu glauben, dass dieses etwas gespannte
Verhältniss zwischen der naturwissenschaftlichen und
theologischen Auffassung der Welt, welches sich zeit-
weilig zu einem erbitterten Kampfe steigert, zu allen
Zeiten und überall bestanden habe. Ein Blick auf die
Geschichte der Naturwissenschaft überzeugt uns vom
Gegentheil.

Man liebt es, die Conflicte der Wissenschaft mit der
Theologie, oder besser gesagt mit der Kirche, zu schil-
dern. Und in der That ist dies ein reichhaltiges und
dankbares Thema. Einerseits ein stattliches Verzeich-
niss von Sünden der Kirche gegen den Fortschritt,
andererseits eine ansehnliche Reihe von Märtyrern, unter
welchen keine Geringem als Giordano Bruno und
Galilei sich befinden, und unter welche einzutreten selbst
einem so frommen Manne wie Descartes nur durch die
günstigsten Umstände knapp erspart wurde. Allein
diese Conflicte sind genügend dargestellt worden, und
wenn man allein diese Conflicte betont, stellt man die
Sache einseitig dar, und wird ungerecht. Man kommt
dann leicht zu der Ansicht, die Wissenschaft sei nur
durch den Druck der Kirche niedergehalten worden,
und hätte sich sofort zu ungeahnter Grösse erhoben,

Viertes Kapitel.
entdeckte. In der That drückt man seit Lagrange all-
gemeinere mechanische Sätze gern in Form von Maximum-
Minimumsätzen aus. Diese Vorliebe bliebe unverständ-
lich ohne Kenntniss der historischen Entwickelung.

2. Theologische animistische und mystische Gesichtspunkte
in der Mechanik.

1. Wenn wir in eine Gesellschaft eintreten, in welcher
eben von einem recht frommen Manne die Rede ist,
dessen Namen wir nicht gehört haben, so werden wir
an den Geheimrath X oder den Herrn v. Y denken,
wir werden aber schwerlich zuerst und zunächst auf
einen tüchtigen Naturforscher rathen. Dennoch wäre
es ein Irrthum zu glauben, dass dieses etwas gespannte
Verhältniss zwischen der naturwissenschaftlichen und
theologischen Auffassung der Welt, welches sich zeit-
weilig zu einem erbitterten Kampfe steigert, zu allen
Zeiten und überall bestanden habe. Ein Blick auf die
Geschichte der Naturwissenschaft überzeugt uns vom
Gegentheil.

Man liebt es, die Conflicte der Wissenschaft mit der
Theologie, oder besser gesagt mit der Kirche, zu schil-
dern. Und in der That ist dies ein reichhaltiges und
dankbares Thema. Einerseits ein stattliches Verzeich-
niss von Sünden der Kirche gegen den Fortschritt,
andererseits eine ansehnliche Reihe von Märtyrern, unter
welchen keine Geringem als Giordano Bruno und
Galilei sich befinden, und unter welche einzutreten selbst
einem so frommen Manne wie Descartes nur durch die
günstigsten Umstände knapp erspart wurde. Allein
diese Conflicte sind genügend dargestellt worden, und
wenn man allein diese Conflicte betont, stellt man die
Sache einseitig dar, und wird ungerecht. Man kommt
dann leicht zu der Ansicht, die Wissenschaft sei nur
durch den Druck der Kirche niedergehalten worden,
und hätte sich sofort zu ungeahnter Grösse erhoben,

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[420/0432] Viertes Kapitel. entdeckte. In der That drückt man seit Lagrange all- gemeinere mechanische Sätze gern in Form von Maximum- Minimumsätzen aus. Diese Vorliebe bliebe unverständ- lich ohne Kenntniss der historischen Entwickelung. 2. Theologische animistische und mystische Gesichtspunkte in der Mechanik. 1. Wenn wir in eine Gesellschaft eintreten, in welcher eben von einem recht frommen Manne die Rede ist, dessen Namen wir nicht gehört haben, so werden wir an den Geheimrath X oder den Herrn v. Y denken, wir werden aber schwerlich zuerst und zunächst auf einen tüchtigen Naturforscher rathen. Dennoch wäre es ein Irrthum zu glauben, dass dieses etwas gespannte Verhältniss zwischen der naturwissenschaftlichen und theologischen Auffassung der Welt, welches sich zeit- weilig zu einem erbitterten Kampfe steigert, zu allen Zeiten und überall bestanden habe. Ein Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaft überzeugt uns vom Gegentheil. Man liebt es, die Conflicte der Wissenschaft mit der Theologie, oder besser gesagt mit der Kirche, zu schil- dern. Und in der That ist dies ein reichhaltiges und dankbares Thema. Einerseits ein stattliches Verzeich- niss von Sünden der Kirche gegen den Fortschritt, andererseits eine ansehnliche Reihe von Märtyrern, unter welchen keine Geringem als Giordano Bruno und Galilei sich befinden, und unter welche einzutreten selbst einem so frommen Manne wie Descartes nur durch die günstigsten Umstände knapp erspart wurde. Allein diese Conflicte sind genügend dargestellt worden, und wenn man allein diese Conflicte betont, stellt man die Sache einseitig dar, und wird ungerecht. Man kommt dann leicht zu der Ansicht, die Wissenschaft sei nur durch den Druck der Kirche niedergehalten worden, und hätte sich sofort zu ungeahnter Grösse erhoben,

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/432>, abgerufen am 23.11.2024.