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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.
digkeit in dem Element. Die ganze Curve kann brachy-
stochron sein, ohne dass jedes kleine Stück diese Eigen-
schaft aufzuweisen braucht. Durch derartige Betrach-
tungen erkannte Euler, dass das von Jakob Bernoulli
eingeführte Princip keine allgemeine Gültigkeit habe,
sondern, dass in Fällen der angedeuteten Art eine um-
ständlichere Behandlung nöthig sei.

7. Durch die Menge der Aufgaben und die übersicht-
liche Ordnung derselben gelang es Euler nach und
nach im Wesentlichen dieselben Methoden zu finden,
welche nachher Lagrange in seiner Weise entwickelt hat,
und deren Inbegriff den Namen Variationsrechnung
führt. Johann Bernoulli fand also durch Analogie eine
zufällige Lösung einer Aufgabe. Jakob Bernoulli ent-
wickelte zur Lösung analoger Probleme eine geome-
trische
Methode. Euler verallgemeinerte die Pro-
bleme und die geometrische Methode. Lagrange endlich
befreite sich gänzlich von der Betrachtung der geome-
trischen Figur und gab eine analytische Methode. Er
bemerkte nämlich, dass die Zuwüchse, welche Functionen
durch Aenderung der Functionsform erfahren, voll-
kommen analog sind den Zuwüchsen durch Aenderung
der unabhängig Variablen. Um den Unterschied beider
Zuwüchse festzuhalten, bezeichnet er erstere mit [d],
letztere mit d. Durch Beachtung der Analogie ist aber
Lagrange in den Stand gesetzt, sofort die Gleichungen
hinzuschreiben, welche zur Lösung der Maximum-Mini-
mumaufgabe führen. Eine weitere Begründung dieses
Gedankens, welcher sich als sehr fruchtbar erwiesen hat,
hat Lagrange nie gegeben, ja nicht einmal versucht.
Seine Leistung ist eine ganz eigenthümliche. Er erkennt
mit grossem ökonomischen Scharfblick die Grundlagen,
welche ihm genügend sicher und brauchbar erscheinen, um
auf denselben ein Gebäude zu errichten. Die Grundsätze
selbst rechtfertigen sich durch ihre Ergiebigkeit. Statt
sich mit der Ableitung der Grundsätze zu beschäftigen,
zeigt er, mit welchem Erfolg man sie benutzen kann.
(Essai d'une nouvelle methode etc. Misc. Taur. 1762).

Viertes Kapitel.
digkeit in dem Element. Die ganze Curve kann brachy-
stochron sein, ohne dass jedes kleine Stück diese Eigen-
schaft aufzuweisen braucht. Durch derartige Betrach-
tungen erkannte Euler, dass das von Jakob Bernoulli
eingeführte Princip keine allgemeine Gültigkeit habe,
sondern, dass in Fällen der angedeuteten Art eine um-
ständlichere Behandlung nöthig sei.

7. Durch die Menge der Aufgaben und die übersicht-
liche Ordnung derselben gelang es Euler nach und
nach im Wesentlichen dieselben Methoden zu finden,
welche nachher Lagrange in seiner Weise entwickelt hat,
und deren Inbegriff den Namen Variationsrechnung
führt. Johann Bernoulli fand also durch Analogie eine
zufällige Lösung einer Aufgabe. Jakob Bernoulli ent-
wickelte zur Lösung analoger Probleme eine geome-
trische
Methode. Euler verallgemeinerte die Pro-
bleme und die geometrische Methode. Lagrange endlich
befreite sich gänzlich von der Betrachtung der geome-
trischen Figur und gab eine analytische Methode. Er
bemerkte nämlich, dass die Zuwüchse, welche Functionen
durch Aenderung der Functionsform erfahren, voll-
kommen analog sind den Zuwüchsen durch Aenderung
der unabhängig Variablen. Um den Unterschied beider
Zuwüchse festzuhalten, bezeichnet er erstere mit [δ],
letztere mit d. Durch Beachtung der Analogie ist aber
Lagrange in den Stand gesetzt, sofort die Gleichungen
hinzuschreiben, welche zur Lösung der Maximum-Mini-
mumaufgabe führen. Eine weitere Begründung dieses
Gedankens, welcher sich als sehr fruchtbar erwiesen hat,
hat Lagrange nie gegeben, ja nicht einmal versucht.
Seine Leistung ist eine ganz eigenthümliche. Er erkennt
mit grossem ökonomischen Scharfblick die Grundlagen,
welche ihm genügend sicher und brauchbar erscheinen, um
auf denselben ein Gebäude zu errichten. Die Grundsätze
selbst rechtfertigen sich durch ihre Ergiebigkeit. Statt
sich mit der Ableitung der Grundsätze zu beschäftigen,
zeigt er, mit welchem Erfolg man sie benutzen kann.
(Essai d’une nouvelle méthode etc. Misc. Taur. 1762).

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[410/0422] Viertes Kapitel. digkeit in dem Element. Die ganze Curve kann brachy- stochron sein, ohne dass jedes kleine Stück diese Eigen- schaft aufzuweisen braucht. Durch derartige Betrach- tungen erkannte Euler, dass das von Jakob Bernoulli eingeführte Princip keine allgemeine Gültigkeit habe, sondern, dass in Fällen der angedeuteten Art eine um- ständlichere Behandlung nöthig sei. 7. Durch die Menge der Aufgaben und die übersicht- liche Ordnung derselben gelang es Euler nach und nach im Wesentlichen dieselben Methoden zu finden, welche nachher Lagrange in seiner Weise entwickelt hat, und deren Inbegriff den Namen Variationsrechnung führt. Johann Bernoulli fand also durch Analogie eine zufällige Lösung einer Aufgabe. Jakob Bernoulli ent- wickelte zur Lösung analoger Probleme eine geome- trische Methode. Euler verallgemeinerte die Pro- bleme und die geometrische Methode. Lagrange endlich befreite sich gänzlich von der Betrachtung der geome- trischen Figur und gab eine analytische Methode. Er bemerkte nämlich, dass die Zuwüchse, welche Functionen durch Aenderung der Functionsform erfahren, voll- kommen analog sind den Zuwüchsen durch Aenderung der unabhängig Variablen. Um den Unterschied beider Zuwüchse festzuhalten, bezeichnet er erstere mit δ, letztere mit d. Durch Beachtung der Analogie ist aber Lagrange in den Stand gesetzt, sofort die Gleichungen hinzuschreiben, welche zur Lösung der Maximum-Mini- mumaufgabe führen. Eine weitere Begründung dieses Gedankens, welcher sich als sehr fruchtbar erwiesen hat, hat Lagrange nie gegeben, ja nicht einmal versucht. Seine Leistung ist eine ganz eigenthümliche. Er erkennt mit grossem ökonomischen Scharfblick die Grundlagen, welche ihm genügend sicher und brauchbar erscheinen, um auf denselben ein Gebäude zu errichten. Die Grundsätze selbst rechtfertigen sich durch ihre Ergiebigkeit. Statt sich mit der Ableitung der Grundsätze zu beschäftigen, zeigt er, mit welchem Erfolg man sie benutzen kann. (Essai d’une nouvelle méthode etc. Misc. Taur. 1762).

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/422>, abgerufen am 23.11.2024.