Heron'sche Reflexionsgesetz stellt sich nun, wie Leibnitz bemerkt, als ein specieller Fall des Brechungsgesetzes dar. Für gleiche Geschwindigkeiten v1 = v2 wird näm- lich die Bedingung des Zeitminimums mit der Bedingung des Wegminimums identisch.
Huyghens hat bei seinen optischen Untersuchungen die Ideen von Fermat festgehalten und ausgebildet, in- dem er nicht nur geradlinige, sondern auch krumm- linige Lichtbewegungen in Medien von continuirlich von Stelle zu Stelle variirender Lichtgeschwindigkeit betrachtet, und auch für diese das Fermat'sche Gesetz als gültig erkannt hat. In allen Lichtbewegungen schien sich somit bei aller Mannichfaltigkeit als Grund- zug das Bestreben nach einem Minimum von Zeit- aufwand auszusprechen.
3. Aehnliche Maximum- oder Minimumeigenschaften zeigten sich auch bei Betrachtung mechanischer Natur- vorgänge. Wie schon bei einer andern Gelegenheit er- wähnt wurde, war es Johann Bernoulli bekannt, dass eine frei aufgehängte Kette diejenige Form annimmt, für welche der Schwerpunkt der Kette möglichst tief zu liegen kommt. Diese Einsicht lag natürlich dem Forscher sehr nahe, der zuerst die allgemeine Bedeu- tung des Satzes der virtuellen Verschiebungen erkannte. Durch diese Bemerkungen angeregt, fing man überhaupt an, Maximum-Minimumeigenschaften genauer zu unter- suchen. Den mächtigsten Anstoss erhielt die bezeichnete wissenschaftliche Bewegung durch das von Johann Ber- noulli aufgestellte Problem der Brachystochrone. In einer Verticalebene liegen zwei Punkte A, B. Es soll diejenige Curve in dieser Ebene angegeben werden, durch welche ein Körper, der auf derselben zu bleiben gezwungen ist, in der kürzesten Zeit von A nach B fällt. Die Aufgabe wurde in sehr geistreicher Weise von Johann Bernoulli selbst, ausserdem aber noch von Leibnitz, L'Hopital, Newton und Jakob Bernoulli gelöst.
Die merkwürdigste Lösung ist jene von Johann Ber- noulli selbst. Er bemerkt, dass Aufgaben dieser Art
Viertes Kapitel.
Heron’sche Reflexionsgesetz stellt sich nun, wie Leibnitz bemerkt, als ein specieller Fall des Brechungsgesetzes dar. Für gleiche Geschwindigkeiten v1 = v2 wird näm- lich die Bedingung des Zeitminimums mit der Bedingung des Wegminimums identisch.
Huyghens hat bei seinen optischen Untersuchungen die Ideen von Fermat festgehalten und ausgebildet, in- dem er nicht nur geradlinige, sondern auch krumm- linige Lichtbewegungen in Medien von continuirlich von Stelle zu Stelle variirender Lichtgeschwindigkeit betrachtet, und auch für diese das Fermat’sche Gesetz als gültig erkannt hat. In allen Lichtbewegungen schien sich somit bei aller Mannichfaltigkeit als Grund- zug das Bestreben nach einem Minimum von Zeit- aufwand auszusprechen.
3. Aehnliche Maximum- oder Minimumeigenschaften zeigten sich auch bei Betrachtung mechanischer Natur- vorgänge. Wie schon bei einer andern Gelegenheit er- wähnt wurde, war es Johann Bernoulli bekannt, dass eine frei aufgehängte Kette diejenige Form annimmt, für welche der Schwerpunkt der Kette möglichst tief zu liegen kommt. Diese Einsicht lag natürlich dem Forscher sehr nahe, der zuerst die allgemeine Bedeu- tung des Satzes der virtuellen Verschiebungen erkannte. Durch diese Bemerkungen angeregt, fing man überhaupt an, Maximum-Minimumeigenschaften genauer zu unter- suchen. Den mächtigsten Anstoss erhielt die bezeichnete wissenschaftliche Bewegung durch das von Johann Ber- noulli aufgestellte Problem der Brachystochrone. In einer Verticalebene liegen zwei Punkte A, B. Es soll diejenige Curve in dieser Ebene angegeben werden, durch welche ein Körper, der auf derselben zu bleiben gezwungen ist, in der kürzesten Zeit von A nach B fällt. Die Aufgabe wurde in sehr geistreicher Weise von Johann Bernoulli selbst, ausserdem aber noch von Leibnitz, L’Hôpital, Newton und Jakob Bernoulli gelöst.
Die merkwürdigste Lösung ist jene von Johann Ber- noulli selbst. Er bemerkt, dass Aufgaben dieser Art
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0412"n="400"/><fwplace="top"type="header">Viertes Kapitel.</fw><lb/>
Heron’sche Reflexionsgesetz stellt sich nun, wie Leibnitz<lb/>
bemerkt, als ein specieller Fall des Brechungsgesetzes<lb/>
dar. Für gleiche Geschwindigkeiten <hirendition="#i">v</hi><hirendition="#sub">1</hi> = <hirendition="#i">v</hi><hirendition="#sub">2</hi> wird näm-<lb/>
lich die Bedingung des <hirendition="#g">Zeit</hi>minimums mit der Bedingung<lb/>
des <hirendition="#g">Weg</hi>minimums identisch.</p><lb/><p>Huyghens hat bei seinen optischen Untersuchungen<lb/>
die Ideen von Fermat festgehalten und ausgebildet, in-<lb/>
dem er nicht nur geradlinige, sondern auch krumm-<lb/>
linige Lichtbewegungen in Medien von continuirlich<lb/>
von Stelle zu Stelle variirender Lichtgeschwindigkeit<lb/>
betrachtet, und auch für diese das Fermat’sche Gesetz<lb/>
als gültig erkannt hat. In allen Lichtbewegungen<lb/>
schien sich somit bei aller Mannichfaltigkeit als Grund-<lb/>
zug das Bestreben nach einem <hirendition="#g">Minimum</hi> von <hirendition="#g">Zeit-<lb/>
aufwand</hi> auszusprechen.</p><lb/><p>3. Aehnliche Maximum- oder Minimumeigenschaften<lb/>
zeigten sich auch bei Betrachtung mechanischer Natur-<lb/>
vorgänge. Wie schon bei einer andern Gelegenheit er-<lb/>
wähnt wurde, war es Johann Bernoulli bekannt, dass<lb/>
eine frei aufgehängte Kette diejenige Form annimmt,<lb/>
für welche der Schwerpunkt der Kette <hirendition="#g">möglichst tief</hi><lb/>
zu liegen kommt. Diese Einsicht lag natürlich dem<lb/>
Forscher sehr nahe, der zuerst die <hirendition="#g">allgemeine</hi> Bedeu-<lb/>
tung des Satzes der virtuellen Verschiebungen erkannte.<lb/>
Durch diese Bemerkungen angeregt, fing man überhaupt<lb/>
an, Maximum-Minimumeigenschaften genauer zu unter-<lb/>
suchen. Den mächtigsten Anstoss erhielt die bezeichnete<lb/>
wissenschaftliche Bewegung durch das von Johann Ber-<lb/>
noulli aufgestellte Problem der <hirendition="#g">Brachystochrone</hi>.<lb/>
In einer Verticalebene liegen zwei Punkte <hirendition="#i">A, B</hi>. Es soll<lb/>
diejenige Curve in dieser Ebene angegeben werden,<lb/>
durch welche ein Körper, der auf derselben zu bleiben<lb/>
gezwungen ist, in der <hirendition="#g">kürzesten</hi> Zeit von <hirendition="#i">A</hi> nach <hirendition="#i">B</hi><lb/>
fällt. Die Aufgabe wurde in sehr geistreicher Weise<lb/>
von Johann Bernoulli selbst, ausserdem aber noch von<lb/>
Leibnitz, L’Hôpital, Newton und Jakob Bernoulli gelöst.</p><lb/><p>Die merkwürdigste Lösung ist jene von Johann Ber-<lb/>
noulli selbst. Er bemerkt, dass Aufgaben dieser Art<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[400/0412]
Viertes Kapitel.
Heron’sche Reflexionsgesetz stellt sich nun, wie Leibnitz
bemerkt, als ein specieller Fall des Brechungsgesetzes
dar. Für gleiche Geschwindigkeiten v1 = v2 wird näm-
lich die Bedingung des Zeitminimums mit der Bedingung
des Wegminimums identisch.
Huyghens hat bei seinen optischen Untersuchungen
die Ideen von Fermat festgehalten und ausgebildet, in-
dem er nicht nur geradlinige, sondern auch krumm-
linige Lichtbewegungen in Medien von continuirlich
von Stelle zu Stelle variirender Lichtgeschwindigkeit
betrachtet, und auch für diese das Fermat’sche Gesetz
als gültig erkannt hat. In allen Lichtbewegungen
schien sich somit bei aller Mannichfaltigkeit als Grund-
zug das Bestreben nach einem Minimum von Zeit-
aufwand auszusprechen.
3. Aehnliche Maximum- oder Minimumeigenschaften
zeigten sich auch bei Betrachtung mechanischer Natur-
vorgänge. Wie schon bei einer andern Gelegenheit er-
wähnt wurde, war es Johann Bernoulli bekannt, dass
eine frei aufgehängte Kette diejenige Form annimmt,
für welche der Schwerpunkt der Kette möglichst tief
zu liegen kommt. Diese Einsicht lag natürlich dem
Forscher sehr nahe, der zuerst die allgemeine Bedeu-
tung des Satzes der virtuellen Verschiebungen erkannte.
Durch diese Bemerkungen angeregt, fing man überhaupt
an, Maximum-Minimumeigenschaften genauer zu unter-
suchen. Den mächtigsten Anstoss erhielt die bezeichnete
wissenschaftliche Bewegung durch das von Johann Ber-
noulli aufgestellte Problem der Brachystochrone.
In einer Verticalebene liegen zwei Punkte A, B. Es soll
diejenige Curve in dieser Ebene angegeben werden,
durch welche ein Körper, der auf derselben zu bleiben
gezwungen ist, in der kürzesten Zeit von A nach B
fällt. Die Aufgabe wurde in sehr geistreicher Weise
von Johann Bernoulli selbst, ausserdem aber noch von
Leibnitz, L’Hôpital, Newton und Jakob Bernoulli gelöst.
Die merkwürdigste Lösung ist jene von Johann Ber-
noulli selbst. Er bemerkt, dass Aufgaben dieser Art
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/412>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.