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Lüders, Else: Das Interesse des Staates am Frauenstimmrecht. Berlin, 1908.

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wirtschaftliche Entwickelung und dem Bildungsstand des Volkes
geradezu Hohn spricht.

Und während der Reichstag aus dem allgemeinen, gleichen
direkten und geheimen Wahlrecht hervorgeht, soll ja bekanntlich
dasselbe Wahlrecht für Preußen dem "Staatswohl nicht ent-
sprechen". Wäre Preußen resp. Deutschland wirklich schon ein
konstitutioneller Staat, bestände wirklich schon eine demokratische
Verfassung bei uns, so könnte ich mich in meinem Referat darauf
beschränken, allein über das Frauenstimmrecht zu sprechen. Da
wir aber von diesem Zustand noch sehr weit entfernt sind, da
meiner Ueberzeugung nach der Weg zum Frauenstimmrecht bei
uns in Deutschland nur über das allgemeine Männerwahlrecht
führt, d. h. daß erst die einzelnen Bundesstaaten wenigstens das
gleiche Wahlrecht wie zum Reichstags für ihre Parlamente ein-
führen werden, - so ist es notwendig, zunächst einen Blick auf
allgemeine Wahlrechts- und Verfassungsfragen zu werfen.

Neben den großen wirtschaftlichen Umwälzungen, die das
19. Jahrhundert, das Maschinenzeitalter, mit sich gebracht hat,
hat es auch starke politische Umwälzungen herbeigeführt. Jch
meine nicht die kriegerischen Ereignisse, sondern die inner-
politischen Entwicklungen, die Verfassungskämpfe. Die alten
Formen des absolutistischen Staates waren überlebt und mußten
daher zerbrochen werden, die Völker waren reif geworden für
den konstitutionellen Staat, in dem Rechte und Pflichten der
Regierten wie der Regierenden durch die Verfassungen geschützt
und gegeneinander geregelt wurden. Jn mehr oder minder heißem,
auch blutigem Ringen, wobei das Temperament und der Bildungs-
grad des Volkes von Einfluß sind, vollzogen sich diese Kämpfe
um die Verfassung, die aus dem braven "Untertan" den freien
Bürger machten, der durch Beteiligung an öffentlichen Aemtern
und durch die Fähigkeit, die Volksvertretung zu wählen, zur
tätigen Mitarbeit am Wohle des Staates berufen ist. Aber
diese Kämpfe um die Verfassung sind ja noch längst nicht be-
endet - ja werden auch nie zum Stillstand kommen, sondern
das Wort "alles fließt" gilt auch für die Völker und Ver-
fassungen. Doch beschränken wir uns in unseren Betrachtungen
auf Deutschland und auf eine kurze Spanne Zeit, d. h. ein

wirtschaftliche Entwickelung und dem Bildungsstand des Volkes
geradezu Hohn spricht.

Und während der Reichstag aus dem allgemeinen, gleichen
direkten und geheimen Wahlrecht hervorgeht, soll ja bekanntlich
dasselbe Wahlrecht für Preußen dem „Staatswohl nicht ent-
sprechen“. Wäre Preußen resp. Deutschland wirklich schon ein
konstitutioneller Staat, bestände wirklich schon eine demokratische
Verfassung bei uns, so könnte ich mich in meinem Referat darauf
beschränken, allein über das Frauenstimmrecht zu sprechen. Da
wir aber von diesem Zustand noch sehr weit entfernt sind, da
meiner Ueberzeugung nach der Weg zum Frauenstimmrecht bei
uns in Deutschland nur über das allgemeine Männerwahlrecht
führt, d. h. daß erst die einzelnen Bundesstaaten wenigstens das
gleiche Wahlrecht wie zum Reichstags für ihre Parlamente ein-
führen werden, – so ist es notwendig, zunächst einen Blick auf
allgemeine Wahlrechts- und Verfassungsfragen zu werfen.

Neben den großen wirtschaftlichen Umwälzungen, die das
19. Jahrhundert, das Maschinenzeitalter, mit sich gebracht hat,
hat es auch starke politische Umwälzungen herbeigeführt. Jch
meine nicht die kriegerischen Ereignisse, sondern die inner-
politischen Entwicklungen, die Verfassungskämpfe. Die alten
Formen des absolutistischen Staates waren überlebt und mußten
daher zerbrochen werden, die Völker waren reif geworden für
den konstitutionellen Staat, in dem Rechte und Pflichten der
Regierten wie der Regierenden durch die Verfassungen geschützt
und gegeneinander geregelt wurden. Jn mehr oder minder heißem,
auch blutigem Ringen, wobei das Temperament und der Bildungs-
grad des Volkes von Einfluß sind, vollzogen sich diese Kämpfe
um die Verfassung, die aus dem braven „Untertan“ den freien
Bürger machten, der durch Beteiligung an öffentlichen Aemtern
und durch die Fähigkeit, die Volksvertretung zu wählen, zur
tätigen Mitarbeit am Wohle des Staates berufen ist. Aber
diese Kämpfe um die Verfassung sind ja noch längst nicht be-
endet – ja werden auch nie zum Stillstand kommen, sondern
das Wort „alles fließt“ gilt auch für die Völker und Ver-
fassungen. Doch beschränken wir uns in unseren Betrachtungen
auf Deutschland und auf eine kurze Spanne Zeit, d. h. ein

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[4/0007] wirtschaftliche Entwickelung und dem Bildungsstand des Volkes geradezu Hohn spricht. Und während der Reichstag aus dem allgemeinen, gleichen direkten und geheimen Wahlrecht hervorgeht, soll ja bekanntlich dasselbe Wahlrecht für Preußen dem „Staatswohl nicht ent- sprechen“. Wäre Preußen resp. Deutschland wirklich schon ein konstitutioneller Staat, bestände wirklich schon eine demokratische Verfassung bei uns, so könnte ich mich in meinem Referat darauf beschränken, allein über das Frauenstimmrecht zu sprechen. Da wir aber von diesem Zustand noch sehr weit entfernt sind, da meiner Ueberzeugung nach der Weg zum Frauenstimmrecht bei uns in Deutschland nur über das allgemeine Männerwahlrecht führt, d. h. daß erst die einzelnen Bundesstaaten wenigstens das gleiche Wahlrecht wie zum Reichstags für ihre Parlamente ein- führen werden, – so ist es notwendig, zunächst einen Blick auf allgemeine Wahlrechts- und Verfassungsfragen zu werfen. Neben den großen wirtschaftlichen Umwälzungen, die das 19. Jahrhundert, das Maschinenzeitalter, mit sich gebracht hat, hat es auch starke politische Umwälzungen herbeigeführt. Jch meine nicht die kriegerischen Ereignisse, sondern die inner- politischen Entwicklungen, die Verfassungskämpfe. Die alten Formen des absolutistischen Staates waren überlebt und mußten daher zerbrochen werden, die Völker waren reif geworden für den konstitutionellen Staat, in dem Rechte und Pflichten der Regierten wie der Regierenden durch die Verfassungen geschützt und gegeneinander geregelt wurden. Jn mehr oder minder heißem, auch blutigem Ringen, wobei das Temperament und der Bildungs- grad des Volkes von Einfluß sind, vollzogen sich diese Kämpfe um die Verfassung, die aus dem braven „Untertan“ den freien Bürger machten, der durch Beteiligung an öffentlichen Aemtern und durch die Fähigkeit, die Volksvertretung zu wählen, zur tätigen Mitarbeit am Wohle des Staates berufen ist. Aber diese Kämpfe um die Verfassung sind ja noch längst nicht be- endet – ja werden auch nie zum Stillstand kommen, sondern das Wort „alles fließt“ gilt auch für die Völker und Ver- fassungen. Doch beschränken wir uns in unseren Betrachtungen auf Deutschland und auf eine kurze Spanne Zeit, d. h. ein  

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Zitationshilfe: Lüders, Else: Das Interesse des Staates am Frauenstimmrecht. Berlin, 1908, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lueders_interesse_1908/7>, abgerufen am 24.11.2024.