Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Schlaf, Traum.
geschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt
durch sehr zahlreiche Fälle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer-
then Mangel des kleinen Gehirns, in welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge-
schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen.

Brücke. Vögel, namentlich Tauben überleben die Ausschneidung der Gross-
hirnhemisphäre längere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfind-
lich, indem sie nach heftigem Geräusche zusammenfahren, nach Lichteindrücken
noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach
Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Brücke und verlängertes Mark noch
heftige Angstschreie, wenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen
benutzt Longet, um zu behaupten, dass die Brücke das Empfindungsvermögen be-
wirke. Diese Behauptung würde, wenn sie erweisbar wäre, von ausserordentlichem
Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusam-
mengesetzte Natur der Seele machen könnte. -- Aber die Erfahrungen am Menschen
widerlegen Longet vollkommen; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlag-
flüsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner
Glieder gelähmt, obwohl die gelähmten Nerven von den Gliedern aufwärts noch in
vollkommener Verbindung mit der unverletzten Brücke stehen.

So wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Or-
gane, die wir erwähnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa
ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. --

Schlaf. Traum *).

1. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusam-
menhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen,
welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, dürften sich folgen-
dermassen zusammenfassen lassen:

a. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven
und der Seele sind vorübergehend gelöst, während die Seele ihre
Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Möglichkeit ihrer Einwirkung
auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs
gehört das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w.
In vielen dieser Fällen scheint jedoch auch die Funktion der Gedanken-
bildung bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt; ob in allen Fällen,
ist sehr zweifelhaft.

b. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den
Muskelnerven sind gelöst, es besteht dagegen noch die Fähigkeit zur
Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele.
Diese sehr häufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp
ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unan-
genehmen Empfindungen bedrückt wird, ohne die Fähigkeit zu be-
sitzen, Bewegungen, die man selbst für hilfreich hält, ausführen zu
können. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungs-
stückes oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erre-
gung (die gedrückte Stelle), in einer dem Erregungszustand des
Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme

*) Purkinje; Wagners Handwörterbuch III. Bd. 2. Abthl.

Schlaf, Traum.
geschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt
durch sehr zahlreiche Fälle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer-
then Mangel des kleinen Gehirns, in welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge-
schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen.

Brücke. Vögel, namentlich Tauben überleben die Ausschneidung der Gross-
hirnhemisphäre längere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfind-
lich, indem sie nach heftigem Geräusche zusammenfahren, nach Lichteindrücken
noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach
Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Brücke und verlängertes Mark noch
heftige Angstschreie, wenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen
benutzt Longet, um zu behaupten, dass die Brücke das Empfindungsvermögen be-
wirke. Diese Behauptung würde, wenn sie erweisbar wäre, von ausserordentlichem
Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusam-
mengesetzte Natur der Seele machen könnte. — Aber die Erfahrungen am Menschen
widerlegen Longet vollkommen; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlag-
flüsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner
Glieder gelähmt, obwohl die gelähmten Nerven von den Gliedern aufwärts noch in
vollkommener Verbindung mit der unverletzten Brücke stehen.

So wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Or-
gane, die wir erwähnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa
ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. —

Schlaf. Traum *).

1. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusam-
menhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen,
welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, dürften sich folgen-
dermassen zusammenfassen lassen:

a. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven
und der Seele sind vorübergehend gelöst, während die Seele ihre
Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Möglichkeit ihrer Einwirkung
auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs
gehört das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w.
In vielen dieser Fällen scheint jedoch auch die Funktion der Gedanken-
bildung bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt; ob in allen Fällen,
ist sehr zweifelhaft.

b. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den
Muskelnerven sind gelöst, es besteht dagegen noch die Fähigkeit zur
Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele.
Diese sehr häufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp
ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unan-
genehmen Empfindungen bedrückt wird, ohne die Fähigkeit zu be-
sitzen, Bewegungen, die man selbst für hilfreich hält, ausführen zu
können. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungs-
stückes oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erre-
gung (die gedrückte Stelle), in einer dem Erregungszustand des
Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme

*) Purkinje; Wagners Handwörterbuch III. Bd. 2. Abthl.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0470" n="456"/><fw place="top" type="header">Schlaf, Traum.</fw><lb/>
geschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt<lb/>
durch sehr zahlreiche Fälle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer-<lb/>
then Mangel des kleinen Gehirns, in welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge-<lb/>
schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Brücke</hi>. Vögel, namentlich Tauben überleben die Ausschneidung der Gross-<lb/>
hirnhemisphäre längere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfind-<lb/>
lich, indem sie nach heftigem Geräusche zusammenfahren, nach Lichteindrücken<lb/>
noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach<lb/>
Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Brücke und verlängertes Mark noch<lb/>
heftige Angstschreie, wenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen<lb/>
benutzt <hi rendition="#g">Longet</hi>, um zu behaupten, dass die Brücke das Empfindungsvermögen be-<lb/>
wirke. Diese Behauptung würde, wenn sie erweisbar wäre, von ausserordentlichem<lb/>
Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusam-<lb/>
mengesetzte Natur der Seele machen könnte. &#x2014; Aber die Erfahrungen am Menschen<lb/>
widerlegen <hi rendition="#g">Longet</hi> vollkommen; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlag-<lb/>
flüsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner<lb/>
Glieder gelähmt, obwohl die gelähmten Nerven von den Gliedern aufwärts noch in<lb/>
vollkommener Verbindung mit der unverletzten Brücke stehen.</p><lb/>
          <p>So wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Or-<lb/>
gane, die wir erwähnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa<lb/>
ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. &#x2014;</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Schlaf. Traum</hi><note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Purkinje; Wagners</hi> Handwörterbuch III. Bd. 2. Abthl.</note>.</head><lb/>
          <p>1. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusam-<lb/>
menhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen,<lb/>
welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, dürften sich folgen-<lb/>
dermassen zusammenfassen lassen:</p><lb/>
          <p>a. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven<lb/>
und der Seele sind vorübergehend gelöst, während die Seele ihre<lb/>
Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Möglichkeit ihrer Einwirkung<lb/>
auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs<lb/>
gehört das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w.<lb/>
In vielen dieser Fällen scheint jedoch auch die Funktion der Gedanken-<lb/>
bildung bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt; ob in allen Fällen,<lb/>
ist sehr zweifelhaft.</p><lb/>
          <p>b. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den<lb/>
Muskelnerven sind gelöst, es besteht dagegen noch die Fähigkeit zur<lb/>
Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele.<lb/>
Diese sehr häufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp<lb/>
ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unan-<lb/>
genehmen Empfindungen bedrückt wird, ohne die Fähigkeit zu be-<lb/>
sitzen, Bewegungen, die man selbst für hilfreich hält, ausführen zu<lb/>
können. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungs-<lb/>
stückes oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erre-<lb/>
gung (die gedrückte Stelle), in einer dem Erregungszustand des<lb/>
Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[456/0470] Schlaf, Traum. geschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt durch sehr zahlreiche Fälle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer- then Mangel des kleinen Gehirns, in welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge- schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen. Brücke. Vögel, namentlich Tauben überleben die Ausschneidung der Gross- hirnhemisphäre längere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfind- lich, indem sie nach heftigem Geräusche zusammenfahren, nach Lichteindrücken noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Brücke und verlängertes Mark noch heftige Angstschreie, wenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen benutzt Longet, um zu behaupten, dass die Brücke das Empfindungsvermögen be- wirke. Diese Behauptung würde, wenn sie erweisbar wäre, von ausserordentlichem Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusam- mengesetzte Natur der Seele machen könnte. — Aber die Erfahrungen am Menschen widerlegen Longet vollkommen; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlag- flüsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner Glieder gelähmt, obwohl die gelähmten Nerven von den Gliedern aufwärts noch in vollkommener Verbindung mit der unverletzten Brücke stehen. So wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Or- gane, die wir erwähnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. — Schlaf. Traum *). 1. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusam- menhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen, welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, dürften sich folgen- dermassen zusammenfassen lassen: a. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven und der Seele sind vorübergehend gelöst, während die Seele ihre Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Möglichkeit ihrer Einwirkung auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs gehört das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w. In vielen dieser Fällen scheint jedoch auch die Funktion der Gedanken- bildung bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt; ob in allen Fällen, ist sehr zweifelhaft. b. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den Muskelnerven sind gelöst, es besteht dagegen noch die Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele. Diese sehr häufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unan- genehmen Empfindungen bedrückt wird, ohne die Fähigkeit zu be- sitzen, Bewegungen, die man selbst für hilfreich hält, ausführen zu können. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungs- stückes oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erre- gung (die gedrückte Stelle), in einer dem Erregungszustand des Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme *) Purkinje; Wagners Handwörterbuch III. Bd. 2. Abthl.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/470
Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/470>, abgerufen am 18.12.2024.