Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Verbindungen der Knochen.
Uebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten
Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abwei-
chungen dieser Formen, gewisse unwillkürliche Leistungen des Ske-
lets von allen Menschen auf ganz ähnliche Art erzeugt werden, mit
andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheilig-
ten Einzelkräfte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein
kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen,
Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer glei-
chen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht
darin ihre Erklärung, dass die constanten und wesentlichen Eigen-
schaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur
oberflächliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfin-
den könnten. Diese Vermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil
z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als
besonders wichtige Theile für das Auge ausgeprägt sind. Möglicher
Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach
entgegengesetzten Richtungen hin die Störungen aus, so dass wenn
ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer
gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch
eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach
entgegengesetzter Richtung erlangt.

Diese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers er-
fordern, würden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie ver-
sunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einflüssen,
welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem
übt, würden dann zu den höchsten Aufgaben der Morphologie führen, nemlich zu den
Fragen über die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt
erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde
von dem spezifischen Gewicht des menschlichen Körpers als Stützpunkt seiner Be-
wegung den festen Boden benützt; dass die Masse des festen Körpers, wenn sie sich
einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgethürmt
wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Vertheilung, welche dem Schwer-
punkt der Gesammtmasse seine Lage annähernd in der Horizontalebene der Schen-
kelköpfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das
vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchführende Medium der Kopf als
Träger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau befähigt.

Verbindungen der Knochen.

1. Ausser der Verbindung durch Nähte, welche meist so innig ist,
dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um
den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene
Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen
und Artikulationen beschreibt. Die Synchondrose zeichnet sich der
Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegenüberstehenden
Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und Bänder, ver-
wachsen sind. Rücksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak-
terisirt, dass sie den Knochenstücken, welche sie verbindet, eine be-
stimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen

Verbindungen der Knochen.
Uebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten
Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abwei-
chungen dieser Formen, gewisse unwillkürliche Leistungen des Ske-
lets von allen Menschen auf ganz ähnliche Art erzeugt werden, mit
andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheilig-
ten Einzelkräfte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein
kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen,
Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer glei-
chen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht
darin ihre Erklärung, dass die constanten und wesentlichen Eigen-
schaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur
oberflächliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfin-
den könnten. Diese Vermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil
z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als
besonders wichtige Theile für das Auge ausgeprägt sind. Möglicher
Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach
entgegengesetzten Richtungen hin die Störungen aus, so dass wenn
ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer
gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch
eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach
entgegengesetzter Richtung erlangt.

Diese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers er-
fordern, würden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie ver-
sunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einflüssen,
welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem
übt, würden dann zu den höchsten Aufgaben der Morphologie führen, nemlich zu den
Fragen über die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt
erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde
von dem spezifischen Gewicht des menschlichen Körpers als Stützpunkt seiner Be-
wegung den festen Boden benützt; dass die Masse des festen Körpers, wenn sie sich
einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgethürmt
wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Vertheilung, welche dem Schwer-
punkt der Gesammtmasse seine Lage annähernd in der Horizontalebene der Schen-
kelköpfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das
vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchführende Medium der Kopf als
Träger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau befähigt.

Verbindungen der Knochen.

1. Ausser der Verbindung durch Nähte, welche meist so innig ist,
dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um
den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene
Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen
und Artikulationen beschreibt. Die Synchondrose zeichnet sich der
Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegenüberstehenden
Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und Bänder, ver-
wachsen sind. Rücksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak-
terisirt, dass sie den Knochenstücken, welche sie verbindet, eine be-
stimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0380" n="366"/><fw place="top" type="header">Verbindungen der Knochen.</fw><lb/>
Uebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten<lb/>
Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abwei-<lb/>
chungen dieser Formen, gewisse unwillkürliche Leistungen des Ske-<lb/>
lets von allen Menschen auf ganz ähnliche Art erzeugt werden, mit<lb/>
andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheilig-<lb/>
ten Einzelkräfte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein<lb/>
kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen,<lb/>
Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer glei-<lb/>
chen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht<lb/>
darin ihre Erklärung, dass die constanten und wesentlichen Eigen-<lb/>
schaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur<lb/>
oberflächliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfin-<lb/>
den könnten. Diese Vermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil<lb/>
z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als<lb/>
besonders wichtige Theile für das Auge ausgeprägt sind. Möglicher<lb/>
Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach<lb/>
entgegengesetzten Richtungen hin die Störungen aus, so dass wenn<lb/>
ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer<lb/>
gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch<lb/>
eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach<lb/>
entgegengesetzter Richtung erlangt.</p><lb/>
            <p>Diese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers er-<lb/>
fordern, würden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie ver-<lb/>
sunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einflüssen,<lb/>
welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem<lb/>
übt, würden dann zu den höchsten Aufgaben der Morphologie führen, nemlich zu den<lb/>
Fragen über die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt<lb/>
erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde<lb/>
von dem spezifischen Gewicht des menschlichen Körpers als Stützpunkt seiner Be-<lb/>
wegung den festen Boden benützt; dass die Masse des festen Körpers, wenn sie sich<lb/>
einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgethürmt<lb/>
wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Vertheilung, welche dem Schwer-<lb/>
punkt der Gesammtmasse seine Lage annähernd in der Horizontalebene der Schen-<lb/>
kelköpfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das<lb/>
vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchführende Medium der Kopf als<lb/>
Träger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau befähigt.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Verbindungen der Knochen</hi>.</p><lb/>
            <p>1. Ausser der Verbindung durch Nähte, welche meist so innig ist,<lb/>
dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um<lb/>
den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene<lb/>
Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen<lb/>
und Artikulationen beschreibt. Die <hi rendition="#g">Synchondrose</hi> zeichnet sich der<lb/>
Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegenüberstehenden<lb/>
Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und Bänder, ver-<lb/>
wachsen sind. Rücksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak-<lb/>
terisirt, dass sie den Knochenstücken, welche sie verbindet, eine be-<lb/>
stimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[366/0380] Verbindungen der Knochen. Uebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abwei- chungen dieser Formen, gewisse unwillkürliche Leistungen des Ske- lets von allen Menschen auf ganz ähnliche Art erzeugt werden, mit andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheilig- ten Einzelkräfte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen, Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer glei- chen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht darin ihre Erklärung, dass die constanten und wesentlichen Eigen- schaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur oberflächliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfin- den könnten. Diese Vermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als besonders wichtige Theile für das Auge ausgeprägt sind. Möglicher Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach entgegengesetzten Richtungen hin die Störungen aus, so dass wenn ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach entgegengesetzter Richtung erlangt. Diese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers er- fordern, würden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie ver- sunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einflüssen, welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem übt, würden dann zu den höchsten Aufgaben der Morphologie führen, nemlich zu den Fragen über die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde von dem spezifischen Gewicht des menschlichen Körpers als Stützpunkt seiner Be- wegung den festen Boden benützt; dass die Masse des festen Körpers, wenn sie sich einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgethürmt wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Vertheilung, welche dem Schwer- punkt der Gesammtmasse seine Lage annähernd in der Horizontalebene der Schen- kelköpfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchführende Medium der Kopf als Träger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau befähigt. Verbindungen der Knochen. 1. Ausser der Verbindung durch Nähte, welche meist so innig ist, dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen und Artikulationen beschreibt. Die Synchondrose zeichnet sich der Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegenüberstehenden Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und Bänder, ver- wachsen sind. Rücksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak- terisirt, dass sie den Knochenstücken, welche sie verbindet, eine be- stimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/380
Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/380>, abgerufen am 22.11.2024.