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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Lösung der Todtenstarre.
Sequard, Stannius -- Unterbindet man an einem lebenden Ka-
ninchen nach Stannius die aorta abdominalis und gleichzeitig die art.
cruralis, so beginnt die Todtenstarre in der hinteren Extremität [und
zwar entgegen dem Sommerschen Gesetz in den Unterschenkeln zu-
erst] 11/2 bis 3 Stunden nach vollendeter Operation einzutreten. Löst
man nach vollkommen ausgeprägter Starre (bis auf 5 Stunden nach Anle-
gung der Ligatur) die Unterbindung und stellt dadurch den Blutkreislauf
in der hintern Extremität wieder her, so verschwindet die Starre mehr
oder weniger vollkommen; die Zeit, welche der wiederhergestellte
Blutkreislauf zur Erzielung dieses Erfolges bedurfte, betrug in ver-
schiedenen Fällen von 20 Minuten bis zu 2 Stunden. -- Die Zeit in wel-
cher der Fäulnissprozess die Lösung der Todtenstarre vollbringt, ist
eine viel beträchtlichere; wechselnd beträgt sie nach Erfahrungen von
Nysten 48 bis 150 Stunden seit dem Eintritt derselben. -- Die einzigen
allgemeinen Regeln, welche zahlreiche Erfahrungen rücksichtlich der
Andauer der Todtenstarre geliefert haben sind die, dass sie um so
länger anhält, je später nach dem Tode sie auftrat. Eine Ausnahme von
dieser für alle Thierklassen giltigen Regel machen nur die Muskeln der
Frösche, welche an Strychninvergiftung starben, indem hier die Starre
kurz nach dem Tode eintritt und sich erst sehr spät löst.

Die Stärke der Todtenstarre beurtheilt man nach dem Werth ihres
Elastizitätscoeffizienten, d. h. nach dem Widerstand den die todten-
starren Muskeln der Ausdehnung entgegensetzen; zum Messen der
Nachgiebigkeit hat man aber nur sehr selten genaue Versuche ange-
stellt, sondern nur ungefähr den Widerstand geschätzt, welchen die
todtenstarren Muskeln den zerrenden oder drückenden Bewegungen
des Beobachters entgegensetzten. Aus diesen ganz unvollkommenen
Versuchen glaubt man sich berechtigt zu den Angaben, dass die lei-
stungsfähigsten Muskeln in die intensivste Starre gerathen, dass nach
dem Tod durch Verblutung beim Menschen die Todtenstarre schwächer,
bei Säugethieren aber stärker war u. s. w.

So unvollkommen die Angaben über die Todtenstarre auch noch
sind, so genügen sie doch weitaus um den eingewurzelten Irrthum zu
beseitigen, dass die Starre einen der Muskelzusammenziehung verwand-
ter Zustand darstelle. Denn es ergibt sich bei einer Vergleichung der
Eigenschaften beider Zustände, die durchgreifendste Verschiedenheit;
in der Zusammenziehung wird der Muskel weicher, in der Todtenstarre
härter; in der Zusammenziehung erscheint die negative Schwankung
des elektrischen Stromes, in der Starre verschwindet der Strom; die
Starre besteht bei Mangel an Sauerstoff, der zusammengezogene Mus-
kel bedarf desselben; der zusammengezogene Muskel entwickelt
Wärme, der starre keine; der zusammengezogene Muskel ermüdet im
Gegensatz zum starren u. s. w. --

Lösung der Todtenstarre.
Sequard, Stannius — Unterbindet man an einem lebenden Ka-
ninchen nach Stannius die aorta abdominalis und gleichzeitig die art.
cruralis, so beginnt die Todtenstarre in der hinteren Extremität [und
zwar entgegen dem Sommerschen Gesetz in den Unterschenkeln zu-
erst] 1½ bis 3 Stunden nach vollendeter Operation einzutreten. Löst
man nach vollkommen ausgeprägter Starre (bis auf 5 Stunden nach Anle-
gung der Ligatur) die Unterbindung und stellt dadurch den Blutkreislauf
in der hintern Extremität wieder her, so verschwindet die Starre mehr
oder weniger vollkommen; die Zeit, welche der wiederhergestellte
Blutkreislauf zur Erzielung dieses Erfolges bedurfte, betrug in ver-
schiedenen Fällen von 20 Minuten bis zu 2 Stunden. — Die Zeit in wel-
cher der Fäulnissprozess die Lösung der Todtenstarre vollbringt, ist
eine viel beträchtlichere; wechselnd beträgt sie nach Erfahrungen von
Nysten 48 bis 150 Stunden seit dem Eintritt derselben. — Die einzigen
allgemeinen Regeln, welche zahlreiche Erfahrungen rücksichtlich der
Andauer der Todtenstarre geliefert haben sind die, dass sie um so
länger anhält, je später nach dem Tode sie auftrat. Eine Ausnahme von
dieser für alle Thierklassen giltigen Regel machen nur die Muskeln der
Frösche, welche an Strychninvergiftung starben, indem hier die Starre
kurz nach dem Tode eintritt und sich erst sehr spät löst.

Die Stärke der Todtenstarre beurtheilt man nach dem Werth ihres
Elastizitätscoeffizienten, d. h. nach dem Widerstand den die todten-
starren Muskeln der Ausdehnung entgegensetzen; zum Messen der
Nachgiebigkeit hat man aber nur sehr selten genaue Versuche ange-
stellt, sondern nur ungefähr den Widerstand geschätzt, welchen die
todtenstarren Muskeln den zerrenden oder drückenden Bewegungen
des Beobachters entgegensetzten. Aus diesen ganz unvollkommenen
Versuchen glaubt man sich berechtigt zu den Angaben, dass die lei-
stungsfähigsten Muskeln in die intensivste Starre gerathen, dass nach
dem Tod durch Verblutung beim Menschen die Todtenstarre schwächer,
bei Säugethieren aber stärker war u. s. w.

So unvollkommen die Angaben über die Todtenstarre auch noch
sind, so genügen sie doch weitaus um den eingewurzelten Irrthum zu
beseitigen, dass die Starre einen der Muskelzusammenziehung verwand-
ter Zustand darstelle. Denn es ergibt sich bei einer Vergleichung der
Eigenschaften beider Zustände, die durchgreifendste Verschiedenheit;
in der Zusammenziehung wird der Muskel weicher, in der Todtenstarre
härter; in der Zusammenziehung erscheint die negative Schwankung
des elektrischen Stromes, in der Starre verschwindet der Strom; die
Starre besteht bei Mangel an Sauerstoff, der zusammengezogene Mus-
kel bedarf desselben; der zusammengezogene Muskel entwickelt
Wärme, der starre keine; der zusammengezogene Muskel ermüdet im
Gegensatz zum starren u. s. w. —

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[348/0362] Lösung der Todtenstarre. Sequard, Stannius — Unterbindet man an einem lebenden Ka- ninchen nach Stannius die aorta abdominalis und gleichzeitig die art. cruralis, so beginnt die Todtenstarre in der hinteren Extremität [und zwar entgegen dem Sommerschen Gesetz in den Unterschenkeln zu- erst] 1½ bis 3 Stunden nach vollendeter Operation einzutreten. Löst man nach vollkommen ausgeprägter Starre (bis auf 5 Stunden nach Anle- gung der Ligatur) die Unterbindung und stellt dadurch den Blutkreislauf in der hintern Extremität wieder her, so verschwindet die Starre mehr oder weniger vollkommen; die Zeit, welche der wiederhergestellte Blutkreislauf zur Erzielung dieses Erfolges bedurfte, betrug in ver- schiedenen Fällen von 20 Minuten bis zu 2 Stunden. — Die Zeit in wel- cher der Fäulnissprozess die Lösung der Todtenstarre vollbringt, ist eine viel beträchtlichere; wechselnd beträgt sie nach Erfahrungen von Nysten 48 bis 150 Stunden seit dem Eintritt derselben. — Die einzigen allgemeinen Regeln, welche zahlreiche Erfahrungen rücksichtlich der Andauer der Todtenstarre geliefert haben sind die, dass sie um so länger anhält, je später nach dem Tode sie auftrat. Eine Ausnahme von dieser für alle Thierklassen giltigen Regel machen nur die Muskeln der Frösche, welche an Strychninvergiftung starben, indem hier die Starre kurz nach dem Tode eintritt und sich erst sehr spät löst. Die Stärke der Todtenstarre beurtheilt man nach dem Werth ihres Elastizitätscoeffizienten, d. h. nach dem Widerstand den die todten- starren Muskeln der Ausdehnung entgegensetzen; zum Messen der Nachgiebigkeit hat man aber nur sehr selten genaue Versuche ange- stellt, sondern nur ungefähr den Widerstand geschätzt, welchen die todtenstarren Muskeln den zerrenden oder drückenden Bewegungen des Beobachters entgegensetzten. Aus diesen ganz unvollkommenen Versuchen glaubt man sich berechtigt zu den Angaben, dass die lei- stungsfähigsten Muskeln in die intensivste Starre gerathen, dass nach dem Tod durch Verblutung beim Menschen die Todtenstarre schwächer, bei Säugethieren aber stärker war u. s. w. So unvollkommen die Angaben über die Todtenstarre auch noch sind, so genügen sie doch weitaus um den eingewurzelten Irrthum zu beseitigen, dass die Starre einen der Muskelzusammenziehung verwand- ter Zustand darstelle. Denn es ergibt sich bei einer Vergleichung der Eigenschaften beider Zustände, die durchgreifendste Verschiedenheit; in der Zusammenziehung wird der Muskel weicher, in der Todtenstarre härter; in der Zusammenziehung erscheint die negative Schwankung des elektrischen Stromes, in der Starre verschwindet der Strom; die Starre besteht bei Mangel an Sauerstoff, der zusammengezogene Mus- kel bedarf desselben; der zusammengezogene Muskel entwickelt Wärme, der starre keine; der zusammengezogene Muskel ermüdet im Gegensatz zum starren u. s. w. —

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/362>, abgerufen am 22.11.2024.