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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Urtheil über Entfernung.
tet werden, da im ersten Fall allerdings das scheinbare Grösserwerden des nähern
Gegenstandes mit seinem Erscheinen im Zerstreuungsbilde auf der Retina, also mit
einer wirklichen Vergrösserung zusammenfällt, im zweiten Falle dagegen die
scheinbare Verkleinerung des ferneren Gegenstandes ebenfalls mit einer wirklichen
Vergrösserung des Retinabildes zusammentrifft. Eine Erläuterung darüber zu geben,
wie diese drei Elemente zusammenwirken, und vermittelst welchem Mechanismus sie
auf die Seele wirken, ist unmöglich. Aufmerksamkeit verdient aber der Umstand, dass
die durch diese Elemente gegebene Grundlage der Vorstellung durch keine Erinne-
rung oder anderweitige bessere Ueberzeugung verdrängt oder bewältigt werden
kann; obwohl der Physiologe weiss, dass ein auf der Retina vorhandenes Nachbild
durch eine Acommodation der optischen Apparate auf verschiedenen Fernen in sei-
ner Grösse nicht verändert werden kann, so sieht er es sich doch mit den Accommo-
dationsbewegungen verändern.

Im Text sind nur die einfachsten Arten der Grössenbestimmung erwähnt; es
gibt aber in der That auch andere, complizirtere, welche zu einer gründlichen Zer-
gliederung noch nicht reif sind. Dahin gehört die Vorstellung, welche wir von der
Grösse eines Gegenstandes erhalten, indem wir das Auge über denselben hinführen.
Ob wir in diesem Falle die Zahl der differenten Eindrücke summiren, oder ob wir
nach der Muskelbewegung die Grösse des Winkels, den wir am Drehpunkt
des Auges beschreiben, schätzen und dergl., ist vollkommen unklar; darum
lässt sich auch die von Listing angeregte Controverse, ob derselbe Gegenstand
bei direktem Sehen (d. h. bei Ueberführung der Sehachse über denselben) klei-
ner erscheine, als bei indirektem, theoretischer Seits nicht erledigen, wenn auch
erwiesen ist, dass derselbe Gegenstand im indirekten Sehen einen grösseren Seh-
winkel besass, als im direkten. Ferner gehört hierher auch die verschiedene Grös-
senvorstellung, welche wir erhalten, wenn wir einen Gegenstand wechselnd bald mit
einem und dann mit zwei Augen fixiren. Endlich siehe weiteres bei Dove *).

d. Ausbreitung eines Bildes in die Tiefe, Anschauung des Kör-
perlichen und der Entfernung. Zur Vollendung unserer Vorstellun-
gen über das Sehen der Gegenstände im Raume, gehört noch die
Bildung eines Urtheils über ihre Ausbreitung in der sogenannten
dritten Dimension. Dieses Urtheil wird nachweislich bestimmt
durch den Zustand des Accommodationsapparats, Moser, die Conver-
genz der Sehachsen, Brücke, und wo diese Mittel nicht mehr ausrei-
chen, durch die relative Lichtstärke und vielleicht durch die verschie-
dene Grösse der Zerstreuungskreise, unter welchen die Gegenstände
erscheinen.

Da der Accommodationsapparat die Gegenstände verschiedener
Entfernungen in zeitlicher Reihenfolge zu deutlichen Bildern umsetzt,
und damit die Leuchtpunkte an das Auge zieht, oder sie von ihm loslöst,
so wird sein Werth für das Schätzen der Entfernung von vorne herein
wahrscheinlich. Thatsächlich wird nun auch diese Vermuthung er-
wiesen: dadurch dass die gesehenen Gegenstände um so näher
erscheinen, je divergirender die von ihren leuchtenden Punkten aus-
gehenden Strahlen in das Auge fallen. Wenn darum ein Gegenstand

*) Poggendorf Annalen. 81 Bd. 118.

Urtheil über Entfernung.
tet werden, da im ersten Fall allerdings das scheinbare Grösserwerden des nähern
Gegenstandes mit seinem Erscheinen im Zerstreuungsbilde auf der Retina, also mit
einer wirklichen Vergrösserung zusammenfällt, im zweiten Falle dagegen die
scheinbare Verkleinerung des ferneren Gegenstandes ebenfalls mit einer wirklichen
Vergrösserung des Retinabildes zusammentrifft. Eine Erläuterung darüber zu geben,
wie diese drei Elemente zusammenwirken, und vermittelst welchem Mechanismus sie
auf die Seele wirken, ist unmöglich. Aufmerksamkeit verdient aber der Umstand, dass
die durch diese Elemente gegebene Grundlage der Vorstellung durch keine Erinne-
rung oder anderweitige bessere Ueberzeugung verdrängt oder bewältigt werden
kann; obwohl der Physiologe weiss, dass ein auf der Retina vorhandenes Nachbild
durch eine Acommodation der optischen Apparate auf verschiedenen Fernen in sei-
ner Grösse nicht verändert werden kann, so sieht er es sich doch mit den Accommo-
dationsbewegungen verändern.

Im Text sind nur die einfachsten Arten der Grössenbestimmung erwähnt; es
gibt aber in der That auch andere, complizirtere, welche zu einer gründlichen Zer-
gliederung noch nicht reif sind. Dahin gehört die Vorstellung, welche wir von der
Grösse eines Gegenstandes erhalten, indem wir das Auge über denselben hinführen.
Ob wir in diesem Falle die Zahl der differenten Eindrücke summiren, oder ob wir
nach der Muskelbewegung die Grösse des Winkels, den wir am Drehpunkt
des Auges beschreiben, schätzen und dergl., ist vollkommen unklar; darum
lässt sich auch die von Listing angeregte Controverse, ob derselbe Gegenstand
bei direktem Sehen (d. h. bei Ueberführung der Sehachse über denselben) klei-
ner erscheine, als bei indirektem, theoretischer Seits nicht erledigen, wenn auch
erwiesen ist, dass derselbe Gegenstand im indirekten Sehen einen grösseren Seh-
winkel besass, als im direkten. Ferner gehört hierher auch die verschiedene Grös-
senvorstellung, welche wir erhalten, wenn wir einen Gegenstand wechselnd bald mit
einem und dann mit zwei Augen fixiren. Endlich siehe weiteres bei Dove *).

d. Ausbreitung eines Bildes in die Tiefe, Anschauung des Kör-
perlichen und der Entfernung. Zur Vollendung unserer Vorstellun-
gen über das Sehen der Gegenstände im Raume, gehört noch die
Bildung eines Urtheils über ihre Ausbreitung in der sogenannten
dritten Dimension. Dieses Urtheil wird nachweislich bestimmt
durch den Zustand des Accommodationsapparats, Moser, die Conver-
genz der Sehachsen, Brücke, und wo diese Mittel nicht mehr ausrei-
chen, durch die relative Lichtstärke und vielleicht durch die verschie-
dene Grösse der Zerstreuungskreise, unter welchen die Gegenstände
erscheinen.

Da der Accommodationsapparat die Gegenstände verschiedener
Entfernungen in zeitlicher Reihenfolge zu deutlichen Bildern umsetzt,
und damit die Leuchtpunkte an das Auge zieht, oder sie von ihm loslöst,
so wird sein Werth für das Schätzen der Entfernung von vorne herein
wahrscheinlich. Thatsächlich wird nun auch diese Vermuthung er-
wiesen: dadurch dass die gesehenen Gegenstände um so näher
erscheinen, je divergirender die von ihren leuchtenden Punkten aus-
gehenden Strahlen in das Auge fallen. Wenn darum ein Gegenstand

*) Poggendorf Annalen. 81 Bd. 118.
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[253/0267] Urtheil über Entfernung. tet werden, da im ersten Fall allerdings das scheinbare Grösserwerden des nähern Gegenstandes mit seinem Erscheinen im Zerstreuungsbilde auf der Retina, also mit einer wirklichen Vergrösserung zusammenfällt, im zweiten Falle dagegen die scheinbare Verkleinerung des ferneren Gegenstandes ebenfalls mit einer wirklichen Vergrösserung des Retinabildes zusammentrifft. Eine Erläuterung darüber zu geben, wie diese drei Elemente zusammenwirken, und vermittelst welchem Mechanismus sie auf die Seele wirken, ist unmöglich. Aufmerksamkeit verdient aber der Umstand, dass die durch diese Elemente gegebene Grundlage der Vorstellung durch keine Erinne- rung oder anderweitige bessere Ueberzeugung verdrängt oder bewältigt werden kann; obwohl der Physiologe weiss, dass ein auf der Retina vorhandenes Nachbild durch eine Acommodation der optischen Apparate auf verschiedenen Fernen in sei- ner Grösse nicht verändert werden kann, so sieht er es sich doch mit den Accommo- dationsbewegungen verändern. Im Text sind nur die einfachsten Arten der Grössenbestimmung erwähnt; es gibt aber in der That auch andere, complizirtere, welche zu einer gründlichen Zer- gliederung noch nicht reif sind. Dahin gehört die Vorstellung, welche wir von der Grösse eines Gegenstandes erhalten, indem wir das Auge über denselben hinführen. Ob wir in diesem Falle die Zahl der differenten Eindrücke summiren, oder ob wir nach der Muskelbewegung die Grösse des Winkels, den wir am Drehpunkt des Auges beschreiben, schätzen und dergl., ist vollkommen unklar; darum lässt sich auch die von Listing angeregte Controverse, ob derselbe Gegenstand bei direktem Sehen (d. h. bei Ueberführung der Sehachse über denselben) klei- ner erscheine, als bei indirektem, theoretischer Seits nicht erledigen, wenn auch erwiesen ist, dass derselbe Gegenstand im indirekten Sehen einen grösseren Seh- winkel besass, als im direkten. Ferner gehört hierher auch die verschiedene Grös- senvorstellung, welche wir erhalten, wenn wir einen Gegenstand wechselnd bald mit einem und dann mit zwei Augen fixiren. Endlich siehe weiteres bei Dove *). d. Ausbreitung eines Bildes in die Tiefe, Anschauung des Kör- perlichen und der Entfernung. Zur Vollendung unserer Vorstellun- gen über das Sehen der Gegenstände im Raume, gehört noch die Bildung eines Urtheils über ihre Ausbreitung in der sogenannten dritten Dimension. Dieses Urtheil wird nachweislich bestimmt durch den Zustand des Accommodationsapparats, Moser, die Conver- genz der Sehachsen, Brücke, und wo diese Mittel nicht mehr ausrei- chen, durch die relative Lichtstärke und vielleicht durch die verschie- dene Grösse der Zerstreuungskreise, unter welchen die Gegenstände erscheinen. Da der Accommodationsapparat die Gegenstände verschiedener Entfernungen in zeitlicher Reihenfolge zu deutlichen Bildern umsetzt, und damit die Leuchtpunkte an das Auge zieht, oder sie von ihm loslöst, so wird sein Werth für das Schätzen der Entfernung von vorne herein wahrscheinlich. Thatsächlich wird nun auch diese Vermuthung er- wiesen: dadurch dass die gesehenen Gegenstände um so näher erscheinen, je divergirender die von ihren leuchtenden Punkten aus- gehenden Strahlen in das Auge fallen. Wenn darum ein Gegenstand *) Poggendorf Annalen. 81 Bd. 118.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/267>, abgerufen am 24.11.2024.