Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu.
Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬
sammen war, in der Wirklichkeit muß er sich erst wie¬
der an sie gewöhnen.

Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas
vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬
der war, der ihm entgegenkommen sollte? Ob der
Bruder fühlte, Appollonius müsse nach ihm ausseh'n,
als er so schnell von seinem Stuhle aufstand? Er
hatte schon die Thürklinke in der Hand. Er ließ sie
fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb,
weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬
blickes ersparen wollte, in dem sie einander allein gegen¬
über stehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und
er mit dem Bewußtsein jenes Widerwillens. Jetzt stieg
die alte Gestalt des Geschiedenen vor dem Bruder auf
und es war, als befreite sie diesen von schweren Sor¬
gen. Es war die Wendung, mit der er sich sonst von
dem Gegenwärtigen abwandte und dabei aussah, als
sagte er zu sich: der Träumer! Und eine rasche Be¬
wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch' ein
Anderer er sei, wie besser er sich auf das Leben ver¬
stehe und auf die Art, "die lange Haare hat und
Schürzen trägt". Er musterte mit einem beruhigten
Blick seine gedrungene Gestalt, sein volles rothes Ge¬
sicht, das tiefer in den Schultern stack, als er meinte,
wenigstens nicht tiefer, als er für schön hielt, in dem

glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu.
Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬
ſammen war, in der Wirklichkeit muß er ſich erſt wie¬
der an ſie gewöhnen.

Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas
vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬
der war, der ihm entgegenkommen ſollte? Ob der
Bruder fühlte, Appollonius müſſe nach ihm ausſeh'n,
als er ſo ſchnell von ſeinem Stuhle aufſtand? Er
hatte ſchon die Thürklinke in der Hand. Er ließ ſie
fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb,
weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬
blickes erſparen wollte, in dem ſie einander allein gegen¬
über ſtehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und
er mit dem Bewußtſein jenes Widerwillens. Jetzt ſtieg
die alte Geſtalt des Geſchiedenen vor dem Bruder auf
und es war, als befreite ſie dieſen von ſchweren Sor¬
gen. Es war die Wendung, mit der er ſich ſonſt von
dem Gegenwärtigen abwandte und dabei ausſah, als
ſagte er zu ſich: der Träumer! Und eine raſche Be¬
wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch' ein
Anderer er ſei, wie beſſer er ſich auf das Leben ver¬
ſtehe und auf die Art, „die lange Haare hat und
Schürzen trägt“. Er muſterte mit einem beruhigten
Blick ſeine gedrungene Geſtalt, ſein volles rothes Ge¬
ſicht, das tiefer in den Schultern ſtack, als er meinte,
wenigſtens nicht tiefer, als er für ſchön hielt, in dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0049" n="40"/>
glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu.<lb/>
Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬<lb/>
&#x017F;ammen war, in der Wirklichkeit muß er &#x017F;ich er&#x017F;t wie¬<lb/>
der an &#x017F;ie gewöhnen.</p><lb/>
        <p>Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas<lb/>
vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬<lb/>
der war, der ihm entgegenkommen &#x017F;ollte? Ob der<lb/>
Bruder fühlte, Appollonius mü&#x017F;&#x017F;e nach ihm aus&#x017F;eh'n,<lb/>
als er &#x017F;o &#x017F;chnell von &#x017F;einem Stuhle auf&#x017F;tand? Er<lb/>
hatte &#x017F;chon die Thürklinke in der Hand. Er ließ &#x017F;ie<lb/>
fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb,<lb/>
weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬<lb/>
blickes er&#x017F;paren wollte, in dem &#x017F;ie einander allein gegen¬<lb/>
über &#x017F;tehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und<lb/>
er mit dem Bewußt&#x017F;ein jenes Widerwillens. Jetzt &#x017F;tieg<lb/>
die alte Ge&#x017F;talt des Ge&#x017F;chiedenen vor dem Bruder auf<lb/>
und es war, als befreite &#x017F;ie die&#x017F;en von &#x017F;chweren Sor¬<lb/>
gen. Es war die Wendung, mit der er &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t von<lb/>
dem Gegenwärtigen abwandte und dabei aus&#x017F;ah, als<lb/>
&#x017F;agte er zu &#x017F;ich: der Träumer! Und eine ra&#x017F;che Be¬<lb/>
wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch' ein<lb/>
Anderer er &#x017F;ei, wie be&#x017F;&#x017F;er er &#x017F;ich auf das Leben ver¬<lb/>
&#x017F;tehe und auf die Art, &#x201E;die lange Haare hat und<lb/>
Schürzen trägt&#x201C;. Er mu&#x017F;terte mit einem beruhigten<lb/>
Blick &#x017F;eine gedrungene Ge&#x017F;talt, &#x017F;ein volles rothes Ge¬<lb/>
&#x017F;icht, das tiefer in den Schultern &#x017F;tack, als er meinte,<lb/>
wenig&#x017F;tens nicht tiefer, als er für &#x017F;chön hielt, in dem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0049] glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu. Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬ ſammen war, in der Wirklichkeit muß er ſich erſt wie¬ der an ſie gewöhnen. Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬ der war, der ihm entgegenkommen ſollte? Ob der Bruder fühlte, Appollonius müſſe nach ihm ausſeh'n, als er ſo ſchnell von ſeinem Stuhle aufſtand? Er hatte ſchon die Thürklinke in der Hand. Er ließ ſie fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb, weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬ blickes erſparen wollte, in dem ſie einander allein gegen¬ über ſtehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und er mit dem Bewußtſein jenes Widerwillens. Jetzt ſtieg die alte Geſtalt des Geſchiedenen vor dem Bruder auf und es war, als befreite ſie dieſen von ſchweren Sor¬ gen. Es war die Wendung, mit der er ſich ſonſt von dem Gegenwärtigen abwandte und dabei ausſah, als ſagte er zu ſich: der Träumer! Und eine raſche Be¬ wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch' ein Anderer er ſei, wie beſſer er ſich auf das Leben ver¬ ſtehe und auf die Art, „die lange Haare hat und Schürzen trägt“. Er muſterte mit einem beruhigten Blick ſeine gedrungene Geſtalt, ſein volles rothes Ge¬ ſicht, das tiefer in den Schultern ſtack, als er meinte, wenigſtens nicht tiefer, als er für ſchön hielt, in dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/49
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/49>, abgerufen am 23.11.2024.