Erde mit ihren Bergen und Thälern und Flüssen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende? Wer ein scharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu seh'n, die sich spinnen die Straßen entlang über Hügel und Thal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dun¬ keln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgespannt, so lang die Herzen leben, aus denen sie gesponnen sind; manche zieh'n mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht schon an des Vaterhauses Thür und liegt an warmen Herzen, an Wangen von Freudenthränen feucht, in Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht lassen wollen, während sein Fuß noch weit davon auf fremdem Boden schreitet. Und steht er auf der Flur des Vaterhauses, wie anders dann, wie anders oft ist sein Empfang, als er geträumt! Wie anders sind die Menschen geworden! In einer Minute sagt er zwei¬ mal: sie sind's, und zweimal: sie sind's nicht. Dann sucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuser, den Fluß, die Berge, die das Heimathsthal umgürten; die müssen doch die alten geblieben sein. Aber auch sie sind anders geworden. Oft sind's die Dinge, die Menschen, oft nur das Auge, das sie wiedersieht. Die Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerun[g]
Erde mit ihren Bergen und Thälern und Flüſſen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende? Wer ein ſcharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu ſeh'n, die ſich ſpinnen die Straßen entlang über Hügel und Thal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entſagung an der Spule ſaß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dun¬ keln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgeſpannt, ſo lang die Herzen leben, aus denen ſie geſponnen ſind; manche zieh'n mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht ſchon an des Vaterhauſes Thür und liegt an warmen Herzen, an Wangen von Freudenthränen feucht, in Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht laſſen wollen, während ſein Fuß noch weit davon auf fremdem Boden ſchreitet. Und ſteht er auf der Flur des Vaterhauſes, wie anders dann, wie anders oft iſt ſein Empfang, als er geträumt! Wie anders ſind die Menſchen geworden! In einer Minute ſagt er zwei¬ mal: ſie ſind's, und zweimal: ſie ſind's nicht. Dann ſucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuſer, den Fluß, die Berge, die das Heimathsthal umgürten; die müſſen doch die alten geblieben ſein. Aber auch ſie ſind anders geworden. Oft ſind's die Dinge, die Menſchen, oft nur das Auge, das ſie wiederſieht. Die Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerun[g]
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Erde mit ihren Bergen und Thälern und Flüſſen, mit
ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte
Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende
und heimkehrende? Wer ein ſcharfes Auge hätte, die
Herzensfäden alle zu ſeh'n, die ſich ſpinnen die Straßen
entlang über Hügel und Thal, dunkle und helle, je
nachdem Hoffnung oder Entſagung an der Spule ſaß,
ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dun¬
keln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgeſpannt,
ſo lang die Herzen leben, aus denen ſie geſponnen
ſind; manche zieh'n mit unentrinnbarer Gewalt zurück.
Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht
ſchon an des Vaterhauſes Thür und liegt an warmen
Herzen, an Wangen von Freudenthränen feucht, in
Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht
laſſen wollen, während ſein Fuß noch weit davon auf
fremdem Boden ſchreitet. Und ſteht er auf der Flur
des Vaterhauſes, wie anders dann, wie anders oft iſt
ſein Empfang, als er geträumt! Wie anders ſind die
Menſchen geworden! In einer Minute ſagt er zwei¬
mal: ſie ſind's, und zweimal: ſie ſind's nicht. Dann
ſucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuſer,
den Fluß, die Berge, die das Heimathsthal umgürten;
die müſſen doch die alten geblieben ſein. Aber auch
ſie ſind anders geworden. Oft ſind's die Dinge, die
Menſchen, oft nur das Auge, das ſie wiederſieht. Die
Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerung
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/48>, abgerufen am 21.11.2024.
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