Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

"der uns behütet hat," da erst stand Alles vor ihrer
Seele, was sie verlieren konnten und, was ihnen ge¬
rettet war. Die fremdesten Menschen fielen sich in die
Arme, einer umschlang in dem Andern die Lieben, die
er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle
stimmten ein in den Gesang; und die Töne des Dankes
schwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und
Plätze, wo Menschen standen, die gefürchtet hatten, und
drangen in die Häuser hinein bis in das innerste Ge¬
mach, und stiegen bis in die höchste Bodenkammer
hinauf. Der Kranke in seinem einsamen Bett, das
Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt
hielt, sang von ferne mit; Kinder sangen mit, die das
Lied nicht verstanden und die Gefahr, die abgewendet
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche,
und Sturm und Donner die riesige Orgel darin. Und
wieder erhob sich der Ruf: "Der Nettenmair! Wo ist
der Nettenmair? Wo ist der Helfer? Wo ist der
Retter? Wo ist der kühne Junge? Wo ist der brave
Mann?" Sturm und Gewitter waren vergessen.
Alles stürzte durcheinander, den Gerufenen suchend;
der Thurm von Sankt Georg wurde gestürmt. Den
Suchenden kam der Zimmermann entgegen und sagte,
Nettenmair habe sich einen Augenblick im Thürmer¬
stübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen sie in den
Zimmermann, er sei doch nicht beschädigt? Seine
Gesundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬

„der uns behütet hat,“ da erſt ſtand Alles vor ihrer
Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬
rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die
Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die
er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle
ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes
ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und
Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und
drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬
mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer
hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das
Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt
hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das
Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche,
und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und
wieder erhob ſich der Ruf: „Der Nettenmair! Wo iſt
der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der
Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave
Mann?“ Sturm und Gewitter waren vergeſſen.
Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend;
der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den
Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte,
Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬
ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den
Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine
Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0315" n="306"/>
&#x201E;der uns behütet hat,&#x201C; da er&#x017F;t &#x017F;tand Alles vor ihrer<lb/>
Seele, was &#x017F;ie verlieren konnten und, was ihnen ge¬<lb/>
rettet war. Die fremde&#x017F;ten Men&#x017F;chen fielen &#x017F;ich in die<lb/>
Arme, einer um&#x017F;chlang in dem Andern die Lieben, die<lb/>
er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle<lb/>
&#x017F;timmten ein in den Ge&#x017F;ang; und die Töne des Dankes<lb/>
&#x017F;chwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und<lb/>
Plätze, wo Men&#x017F;chen &#x017F;tanden, die gefürchtet hatten, und<lb/>
drangen in die Häu&#x017F;er hinein bis in das inner&#x017F;te Ge¬<lb/>
mach, und &#x017F;tiegen bis in die höch&#x017F;te Bodenkammer<lb/>
hinauf. Der Kranke in &#x017F;einem ein&#x017F;amen Bett, das<lb/>
Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt<lb/>
hielt, &#x017F;ang von ferne mit; Kinder &#x017F;angen mit, die das<lb/>
Lied nicht ver&#x017F;tanden und die Gefahr, die abgewendet<lb/>
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche,<lb/>
und Sturm und Donner die rie&#x017F;ige Orgel darin. Und<lb/>
wieder erhob &#x017F;ich der Ruf: &#x201E;Der Nettenmair! Wo i&#x017F;t<lb/>
der Nettenmair? Wo i&#x017F;t der Helfer? Wo i&#x017F;t der<lb/>
Retter? Wo i&#x017F;t der kühne Junge? Wo i&#x017F;t der brave<lb/>
Mann?&#x201C; Sturm und Gewitter waren verge&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Alles &#x017F;türzte durcheinander, den Gerufenen &#x017F;uchend;<lb/>
der Thurm von Sankt Georg wurde ge&#x017F;türmt. Den<lb/>
Suchenden kam der Zimmermann entgegen und &#x017F;agte,<lb/>
Nettenmair habe &#x017F;ich einen Augenblick im Thürmer¬<lb/>
&#x017F;tübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen &#x017F;ie in den<lb/>
Zimmermann, er &#x017F;ei doch nicht be&#x017F;chädigt? Seine<lb/>
Ge&#x017F;undheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[306/0315] „der uns behütet hat,“ da erſt ſtand Alles vor ihrer Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬ rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬ mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche, und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und wieder erhob ſich der Ruf: „Der Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave Mann?“ Sturm und Gewitter waren vergeſſen. Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend; der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte, Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬ ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/315
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/315>, abgerufen am 24.11.2024.