"der uns behütet hat," da erst stand Alles vor ihrer Seele, was sie verlieren konnten und, was ihnen ge¬ rettet war. Die fremdesten Menschen fielen sich in die Arme, einer umschlang in dem Andern die Lieben, die er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle stimmten ein in den Gesang; und die Töne des Dankes schwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo Menschen standen, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuser hinein bis in das innerste Ge¬ mach, und stiegen bis in die höchste Bodenkammer hinauf. Der Kranke in seinem einsamen Bett, das Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, sang von ferne mit; Kinder sangen mit, die das Lied nicht verstanden und die Gefahr, die abgewendet war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche, und Sturm und Donner die riesige Orgel darin. Und wieder erhob sich der Ruf: "Der Nettenmair! Wo ist der Nettenmair? Wo ist der Helfer? Wo ist der Retter? Wo ist der kühne Junge? Wo ist der brave Mann?" Sturm und Gewitter waren vergessen. Alles stürzte durcheinander, den Gerufenen suchend; der Thurm von Sankt Georg wurde gestürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und sagte, Nettenmair habe sich einen Augenblick im Thürmer¬ stübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen sie in den Zimmermann, er sei doch nicht beschädigt? Seine Gesundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬
„der uns behütet hat,“ da erſt ſtand Alles vor ihrer Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬ rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬ mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche, und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und wieder erhob ſich der Ruf: „Der Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave Mann?“ Sturm und Gewitter waren vergeſſen. Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend; der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte, Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬ ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬
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„der uns behütet hat,“ da erſt ſtand Alles vor ihrer
Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬
rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die
Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die
er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle
ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes
ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und
Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und
drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬
mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer
hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das
Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt
hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das
Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche,
und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und
wieder erhob ſich der Ruf: „Der Nettenmair! Wo iſt
der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der
Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave
Mann?“ Sturm und Gewitter waren vergeſſen.
Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend;
der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den
Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte,
Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬
ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den
Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine
Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/315>, abgerufen am 24.11.2024.
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