geln vergessen. Die Lücke war wie ein böser Fleck, ein Fleck, wo eine Unthat begonnen oder vollbracht ist, und kein Gras wächst, und kein Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis sie gerächt ist; wie ein leeres Grab, das sich nicht schließt, eh' es sei¬ nen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geschlossen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr. Er konnte das einem Gesellen auftragen, aber der Ge¬ danke, einen Andern seine verwahrlosete Arbeit nach¬ bessern zu lassen, trieb das Roth der Scham auf seine bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem An¬ dern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die Lücke rief nach ihm, und nur er konnte sie schließen. Oder den Gesellen faßte das Verderben, das er dort eingehäm¬ mert, der Schwindel, der dort wohnte, und stürzte ihn herab. Seit das Weib des Bruders in seinen Armen gelegen, führte er ein Doppelleben. Er schaffte den Tag lang außen, Nachts saß er in seinem Stübchen bei seinen Büchern auf; das spann sich alles mechanisch ab; er war trotz seines Kämpfens nur mit halber Seele dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für sich. Im¬ mer schwebte sie mit den Dohlen um die Lücke an dem Thurmdach und brütete, welches kommende Unheil es sei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Sie träumte den sündhaften Traum wieder durch. Sie kämpfte den schrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat?
geln vergeſſen. Die Lücke war wie ein böſer Fleck, ein Fleck, wo eine Unthat begonnen oder vollbracht iſt, und kein Gras wächſt, und kein Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis ſie gerächt iſt; wie ein leeres Grab, das ſich nicht ſchließt, eh' es ſei¬ nen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geſchloſſen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr. Er konnte das einem Geſellen auftragen, aber der Ge¬ danke, einen Andern ſeine verwahrloſete Arbeit nach¬ beſſern zu laſſen, trieb das Roth der Scham auf ſeine bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem An¬ dern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die Lücke rief nach ihm, und nur er konnte ſie ſchließen. Oder den Geſellen faßte das Verderben, das er dort eingehäm¬ mert, der Schwindel, der dort wohnte, und ſtürzte ihn herab. Seit das Weib des Bruders in ſeinen Armen gelegen, führte er ein Doppelleben. Er ſchaffte den Tag lang außen, Nachts ſaß er in ſeinem Stübchen bei ſeinen Büchern auf; das ſpann ſich alles mechaniſch ab; er war trotz ſeines Kämpfens nur mit halber Seele dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für ſich. Im¬ mer ſchwebte ſie mit den Dohlen um die Lücke an dem Thurmdach und brütete, welches kommende Unheil es ſei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Sie träumte den ſündhaften Traum wieder durch. Sie kämpfte den ſchrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat?
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geln vergeſſen. Die Lücke war wie ein böſer Fleck,
ein Fleck, wo eine Unthat begonnen oder vollbracht iſt,
und kein Gras wächſt, und kein Schatten wird; wie
eine offene Wunde, die nicht heilt, bis ſie gerächt iſt;
wie ein leeres Grab, das ſich nicht ſchließt, eh' es ſei¬
nen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke
geſchloſſen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr.
Er konnte das einem Geſellen auftragen, aber der Ge¬
danke, einen Andern ſeine verwahrloſete Arbeit nach¬
beſſern zu laſſen, trieb das Roth der Scham auf ſeine
bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem An¬
dern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die Lücke rief
nach ihm, und nur er konnte ſie ſchließen. Oder den
Geſellen faßte das Verderben, das er dort eingehäm¬
mert, der Schwindel, der dort wohnte, und ſtürzte ihn
herab. Seit das Weib des Bruders in ſeinen Armen
gelegen, führte er ein Doppelleben. Er ſchaffte den
Tag lang außen, Nachts ſaß er in ſeinem Stübchen bei
ſeinen Büchern auf; das ſpann ſich alles mechaniſch ab;
er war trotz ſeines Kämpfens nur mit halber Seele
dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für ſich. Im¬
mer ſchwebte ſie mit den Dohlen um die Lücke an
dem Thurmdach und brütete, welches kommende Unheil
es ſei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Sie
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/286>, abgerufen am 26.11.2024.
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