Frau nur die Schwester sehe? Vor einem halben Jahre noch hätte er das beschwören können; heute war es Meineid: heute durfte er es nicht mehr. Er konnte, wenn der Bruder den entsetzlichen Plan auf sein Leben nicht aufgab, die Ausführung desselben erschweren, aber nicht unmöglich machen. In dem Zustande, in wel¬ chem Apollonius sich jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünscht sein, als schrecklich; dann hatte aller Kampf, alle Gewissenspein, alle Sorge ein Ende; aber was sollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte er sich nicht das Wort gegeben, sie vor Schande und Noth zu bewah¬ ren? Diesen neuen Kampf beendete die Mittheilung des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber sie machte den alten Kampf nur schwerer, indem sie dem Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entschlossen war, die Wünsche, die er verdammen mußte, nicht zur That werden zu lassen. Aber die Wünsche selbst! Wenn kein äußeres Hinderniß mehr ihrer Er¬ füllung im Wege stand, mußte ihre Gewalt da nicht wachsen? Die Gewissensvorwürfe mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo sie in der täglichen Nähe einen unerschöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er sich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte Ruhe. Diesen Vormittag noch mußte er die
Frau nur die Schweſter ſehe? Vor einem halben Jahre noch hätte er das beſchwören können; heute war es Meineid: heute durfte er es nicht mehr. Er konnte, wenn der Bruder den entſetzlichen Plan auf ſein Leben nicht aufgab, die Ausführung deſſelben erſchweren, aber nicht unmöglich machen. In dem Zuſtande, in wel¬ chem Apollonius ſich jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünſcht ſein, als ſchrecklich; dann hatte aller Kampf, alle Gewiſſenspein, alle Sorge ein Ende; aber was ſollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte er ſich nicht das Wort gegeben, ſie vor Schande und Noth zu bewah¬ ren? Dieſen neuen Kampf beendete die Mittheilung des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber ſie machte den alten Kampf nur ſchwerer, indem ſie dem Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entſchloſſen war, die Wünſche, die er verdammen mußte, nicht zur That werden zu laſſen. Aber die Wünſche ſelbſt! Wenn kein äußeres Hinderniß mehr ihrer Er¬ füllung im Wege ſtand, mußte ihre Gewalt da nicht wachſen? Die Gewiſſensvorwürfe mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo ſie in der täglichen Nähe einen unerſchöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er ſich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte Ruhe. Dieſen Vormittag noch mußte er die
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Frau nur die Schweſter ſehe? Vor einem halben Jahre
noch hätte er das beſchwören können; heute war es
Meineid: heute durfte er es nicht mehr. Er konnte,
wenn der Bruder den entſetzlichen Plan auf ſein Leben
nicht aufgab, die Ausführung deſſelben erſchweren, aber
nicht unmöglich machen. In dem Zuſtande, in wel¬
chem Apollonius ſich jetzt befand, konnte ihm der Tod
eher erwünſcht ſein, als ſchrecklich; dann hatte aller
Kampf, alle Gewiſſenspein, alle Sorge ein Ende;
aber was ſollte aus dem Vater, was aus ihr und
den Kindern werden? Und hatte er ſich nicht das
Wort gegeben, ſie vor Schande und Noth zu bewah¬
ren? Dieſen neuen Kampf beendete die Mittheilung
des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber ſie
machte den alten Kampf nur ſchwerer, indem ſie dem
Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er
entſchloſſen war, die Wünſche, die er verdammen mußte,
nicht zur That werden zu laſſen. Aber die Wünſche
ſelbſt! Wenn kein äußeres Hinderniß mehr ihrer Er¬
füllung im Wege ſtand, mußte ihre Gewalt da nicht
wachſen? Die Gewiſſensvorwürfe mit ihnen? Und die
Entfernung von dem Orte, wo ſie in der täglichen
Nähe einen unerſchöpflichen Erneuerungsquell hatten,
machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er
ſich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene
Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und
bedurfte Ruhe. Dieſen Vormittag noch mußte er die
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/261>, abgerufen am 28.11.2024.
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