weißt nicht?" Der alte Herr flüsterte nur, aber jedes seiner Worte schlug wie Donner in die Seele des Sohnes. "Ich will dir's sagen. Drüben in Bram¬ bach liegt er todt. Das Seil ist über ihm zerrißen und du hast's mit Beilstichen zerschnitten. Der Nach¬ bar hat dich in den Schuppen schleichen sehn. Du hast vor deiner Frau gedroht, du willst es thun. Die ganze Stadt weiß es; eben tragen sie's in die Gerichte. Der erste, der nun die Treppe herauf kommt, ist der Häscher, der dich vor den Richter führt." -- Fritz Net¬ tenmair brach zusammen; die Rüstung knackte unter ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am Rande des Gerüst's zusammen, so stürzte er hinab in die Tiefe. Und Alles war vorüber! Alles, was sein mußte, war gethan! Eine Lerche stieg aus einem na¬ hen Garten in die Höh' und streute ihr lustiges Tirili über Bäume und Häuser hin. Glücklichere Menschen hörten den Gesang aus der Ferne; Arbeiter ließen den Spaten ruhn, Kinder Peitsche und Kreisel, und suchten mit himmelaufgewandten Augen den schwebenden klin¬ genden Punkt, und horchten mit verhaltenem Athem hinauf. Der alte Herr Nettenmair hörte die nahe Lerche nicht; er hielt auch den Athem an, aber er horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts, das wie Lerchensang klingt, was er erhorchen wollte. Es war ein Poltern auf dem Dach unter ihm, ein gebrochener Angstruf. Er horchte erst voll Hoffnung,
weißt nicht?“ Der alte Herr flüſterte nur, aber jedes ſeiner Worte ſchlug wie Donner in die Seele des Sohnes. „Ich will dir's ſagen. Drüben in Bram¬ bach liegt er todt. Das Seil iſt über ihm zerrißen und du haſt's mit Beilſtichen zerſchnitten. Der Nach¬ bar hat dich in den Schuppen ſchleichen ſehn. Du haſt vor deiner Frau gedroht, du willſt es thun. Die ganze Stadt weiß es; eben tragen ſie's in die Gerichte. Der erſte, der nun die Treppe herauf kommt, iſt der Häſcher, der dich vor den Richter führt.“ — Fritz Net¬ tenmair brach zuſammen; die Rüſtung knackte unter ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am Rande des Gerüſt's zuſammen, ſo ſtürzte er hinab in die Tiefe. Und Alles war vorüber! Alles, was ſein mußte, war gethan! Eine Lerche ſtieg aus einem na¬ hen Garten in die Höh' und ſtreute ihr luſtiges Tirili über Bäume und Häuſer hin. Glücklichere Menſchen hörten den Geſang aus der Ferne; Arbeiter ließen den Spaten ruhn, Kinder Peitſche und Kreiſel, und ſuchten mit himmelaufgewandten Augen den ſchwebenden klin¬ genden Punkt, und horchten mit verhaltenem Athem hinauf. Der alte Herr Nettenmair hörte die nahe Lerche nicht; er hielt auch den Athem an, aber er horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts, das wie Lerchenſang klingt, was er erhorchen wollte. Es war ein Poltern auf dem Dach unter ihm, ein gebrochener Angſtruf. Er horchte erſt voll Hoffnung,
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weißt nicht?“ Der alte Herr flüſterte nur, aber jedes
ſeiner Worte ſchlug wie Donner in die Seele des
Sohnes. „Ich will dir's ſagen. Drüben in Bram¬
bach liegt er todt. Das Seil iſt über ihm zerrißen
und du haſt's mit Beilſtichen zerſchnitten. Der Nach¬
bar hat dich in den Schuppen ſchleichen ſehn. Du
haſt vor deiner Frau gedroht, du willſt es thun. Die
ganze Stadt weiß es; eben tragen ſie's in die Gerichte.
Der erſte, der nun die Treppe herauf kommt, iſt der
Häſcher, der dich vor den Richter führt.“ — Fritz Net¬
tenmair brach zuſammen; die Rüſtung knackte unter
ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am
Rande des Gerüſt's zuſammen, ſo ſtürzte er hinab in
die Tiefe. Und Alles war vorüber! Alles, was ſein
mußte, war gethan! Eine Lerche ſtieg aus einem na¬
hen Garten in die Höh' und ſtreute ihr luſtiges Tirili
über Bäume und Häuſer hin. Glücklichere Menſchen
hörten den Geſang aus der Ferne; Arbeiter ließen den
Spaten ruhn, Kinder Peitſche und Kreiſel, und ſuchten
mit himmelaufgewandten Augen den ſchwebenden klin¬
genden Punkt, und horchten mit verhaltenem Athem
hinauf. Der alte Herr Nettenmair hörte die nahe
Lerche nicht; er hielt auch den Athem an, aber er
horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts,
das wie Lerchenſang klingt, was er erhorchen wollte.
Es war ein Poltern auf dem Dach unter ihm, ein
gebrochener Angſtruf. Er horchte erſt voll Hoffnung,
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/222>, abgerufen am 04.12.2024.
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