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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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verlassen müssen. Und er selbst ahnte nichts weniger,
als daß der alte Herr innerlich überzeugt war von der
Schuld seines älteren und von der Gefahr, wenn nicht
vom Tode seines jüngeren Sohnes, während er ihm
seine Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte,
und den Boten nur geschickt zu haben schien, um ihn
und die Frau zu beruhigen.

"Nun wird der alte Narr doch," sagte Herr Netten¬
mair, nachdem Valentin zu ihm zurückgekehrt war, "dem
Nachbar das ganze Märchen, das er sich zusammen¬
spintisirt hat, erzählt haben, und die Frau sechs Basen
damit in die Stadt herumgeschickt haben!" Valentin
merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der
alte Herr die Antwort erwartete auf seine in einen Aus¬
ruf verkleidete Frage. "Werd' ich doch nicht!" sagte er
eifrig. Des alten Herrn Vermuthung kränkte ihn.
"Ich hab' ja da selbst noch nichts Arges gemeint, und
die Frau Nettenmair hat keinen Menschen gesprochen
seitdem."

Der alte Herr schöpfte neue Hoffnung. Während
Valentin's Abwesenheit hatte er sich einen Augenblick
dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in
seinem Falle nur empfinden konnte. Aber er hatte sich
gesagt: man dürfe nicht in unthätigem Jammer dem
Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten sei. Waren
auch die Söhne verloren, so war doch die Ehre des
Hauses, seine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht

verlaſſen müſſen. Und er ſelbſt ahnte nichts weniger,
als daß der alte Herr innerlich überzeugt war von der
Schuld ſeines älteren und von der Gefahr, wenn nicht
vom Tode ſeines jüngeren Sohnes, während er ihm
ſeine Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte,
und den Boten nur geſchickt zu haben ſchien, um ihn
und die Frau zu beruhigen.

„Nun wird der alte Narr doch,“ ſagte Herr Netten¬
mair, nachdem Valentin zu ihm zurückgekehrt war, „dem
Nachbar das ganze Märchen, das er ſich zuſammen¬
ſpintiſirt hat, erzählt haben, und die Frau ſechs Baſen
damit in die Stadt herumgeſchickt haben!“ Valentin
merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der
alte Herr die Antwort erwartete auf ſeine in einen Aus¬
ruf verkleidete Frage. „Werd' ich doch nicht!“ ſagte er
eifrig. Des alten Herrn Vermuthung kränkte ihn.
„Ich hab' ja da ſelbſt noch nichts Arges gemeint, und
die Frau Nettenmair hat keinen Menſchen geſprochen
ſeitdem.“

Der alte Herr ſchöpfte neue Hoffnung. Während
Valentin's Abweſenheit hatte er ſich einen Augenblick
dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in
ſeinem Falle nur empfinden konnte. Aber er hatte ſich
geſagt: man dürfe nicht in unthätigem Jammer dem
Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten ſei. Waren
auch die Söhne verloren, ſo war doch die Ehre des
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[199/0208] verlaſſen müſſen. Und er ſelbſt ahnte nichts weniger, als daß der alte Herr innerlich überzeugt war von der Schuld ſeines älteren und von der Gefahr, wenn nicht vom Tode ſeines jüngeren Sohnes, während er ihm ſeine Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte, und den Boten nur geſchickt zu haben ſchien, um ihn und die Frau zu beruhigen. „Nun wird der alte Narr doch,“ ſagte Herr Netten¬ mair, nachdem Valentin zu ihm zurückgekehrt war, „dem Nachbar das ganze Märchen, das er ſich zuſammen¬ ſpintiſirt hat, erzählt haben, und die Frau ſechs Baſen damit in die Stadt herumgeſchickt haben!“ Valentin merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der alte Herr die Antwort erwartete auf ſeine in einen Aus¬ ruf verkleidete Frage. „Werd' ich doch nicht!“ ſagte er eifrig. Des alten Herrn Vermuthung kränkte ihn. „Ich hab' ja da ſelbſt noch nichts Arges gemeint, und die Frau Nettenmair hat keinen Menſchen geſprochen ſeitdem.“ Der alte Herr ſchöpfte neue Hoffnung. Während Valentin's Abweſenheit hatte er ſich einen Augenblick dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in ſeinem Falle nur empfinden konnte. Aber er hatte ſich geſagt: man dürfe nicht in unthätigem Jammer dem Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten ſei. Waren auch die Söhne verloren, ſo war doch die Ehre des Hauſes, ſeine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/208>, abgerufen am 04.12.2024.