haftes Herabbiegen und Händezusammenschlagen um eine bleiche Gestalt am Boden, dann ein langsam wallender Leichenzug; und bald war es der Feind, bald war es der Bruder, der dort lag, den sie trugen. Bald zuckt' es in greller Schadenfreude auf, bald sank es in Mitleid zusammen, bald mischten sich beide und das eine wollte das andere verstecken. Der dort lag, den sie trugen, ihm verzieh er Alles. Er weinte um ihn; denn durch die Pausen des Grabgesangs klang leise ein lustiger Rutscher, den die Zukunft aufstrich: "Da kommt er ja! Nun wird's famos." Und neben dem Todten lag unsichtbar eine zweite Leiche, seine Furcht vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder nicht todt. Und im Sarg trieb verstohlen Fritz Netten¬ mair's altes joviales Glück neue Keime. Fritz Nettenmair fühlt sich einen Engel. Er wünscht, der Bruder müßte nicht sterben, weil -- er weiß, daß der Bruder sterben muß.
Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaster der Stadt schon wieder unter seinen Tritten hallt. Sein Weg führt ihn am rothen Adler vorüber. Die Saal¬ fenster sind erleuchtet. Musik klingt herab. Fritz Net¬ tenmair bleibt stehn und sieht hinauf und bewegt un¬ willkührlich die Hand in der Tasche, wie sonst, als er noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er hat den Gesellen, den letzten Freund, von dem er mit Schmerz geschieden, schon vergessen. "Der Gesell ist ein schlechter Kerl; gut, daß er fort ist." Er hat die Ver¬
haftes Herabbiegen und Händezuſammenſchlagen um eine bleiche Geſtalt am Boden, dann ein langſam wallender Leichenzug; und bald war es der Feind, bald war es der Bruder, der dort lag, den ſie trugen. Bald zuckt' es in greller Schadenfreude auf, bald ſank es in Mitleid zuſammen, bald miſchten ſich beide und das eine wollte das andere verſtecken. Der dort lag, den ſie trugen, ihm verzieh er Alles. Er weinte um ihn; denn durch die Pauſen des Grabgeſangs klang leiſe ein luſtiger Rutſcher, den die Zukunft aufſtrich: „Da kommt er ja! Nun wird's famos.“ Und neben dem Todten lag unſichtbar eine zweite Leiche, ſeine Furcht vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder nicht todt. Und im Sarg trieb verſtohlen Fritz Netten¬ mair's altes joviales Glück neue Keime. Fritz Nettenmair fühlt ſich einen Engel. Er wünſcht, der Bruder müßte nicht ſterben, weil — er weiß, daß der Bruder ſterben muß.
Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaſter der Stadt ſchon wieder unter ſeinen Tritten hallt. Sein Weg führt ihn am rothen Adler vorüber. Die Saal¬ fenſter ſind erleuchtet. Muſik klingt herab. Fritz Net¬ tenmair bleibt ſtehn und ſieht hinauf und bewegt un¬ willkührlich die Hand in der Taſche, wie ſonſt, als er noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er hat den Geſellen, den letzten Freund, von dem er mit Schmerz geſchieden, ſchon vergeſſen. „Der Geſell iſt ein ſchlechter Kerl; gut, daß er fort iſt.“ Er hat die Ver¬
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haftes Herabbiegen und Händezuſammenſchlagen um
eine bleiche Geſtalt am Boden, dann ein langſam
wallender Leichenzug; und bald war es der Feind, bald
war es der Bruder, der dort lag, den ſie trugen. Bald
zuckt' es in greller Schadenfreude auf, bald ſank es in
Mitleid zuſammen, bald miſchten ſich beide und das
eine wollte das andere verſtecken. Der dort lag, den
ſie trugen, ihm verzieh er Alles. Er weinte um ihn;
denn durch die Pauſen des Grabgeſangs klang leiſe
ein luſtiger Rutſcher, den die Zukunft aufſtrich: „Da
kommt er ja! Nun wird's famos.“ Und neben dem
Todten lag unſichtbar eine zweite Leiche, ſeine Furcht
vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder
nicht todt. Und im Sarg trieb verſtohlen Fritz Netten¬
mair's altes joviales Glück neue Keime. Fritz Nettenmair
fühlt ſich einen Engel. Er wünſcht, der Bruder müßte nicht
ſterben, weil — er weiß, daß der Bruder ſterben muß.
Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaſter der
Stadt ſchon wieder unter ſeinen Tritten hallt. Sein
Weg führt ihn am rothen Adler vorüber. Die Saal¬
fenſter ſind erleuchtet. Muſik klingt herab. Fritz Net¬
tenmair bleibt ſtehn und ſieht hinauf und bewegt un¬
willkührlich die Hand in der Taſche, wie ſonſt, als er
noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er hat
den Geſellen, den letzten Freund, von dem er mit
Schmerz geſchieden, ſchon vergeſſen. „Der Geſell iſt ein
ſchlechter Kerl; gut, daß er fort iſt.“ Er hat die Ver¬
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/166>, abgerufen am 04.12.2024.
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