"Und was ich sagen wollte: ihr werdet bald Trauer haben. Ich hab' ihn neulich gesehn." Er brauchte keinen Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er meinte. "Es gibt Leute, die mehr sehn, als Andere," fuhr der Geselle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬ decker ansehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß, daß sie ihn getragen bringen und sehn ihn daliegen, nur er selber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergesell hat mir das Geheimniß gesagt, wie man zu dem "Frohn¬ weißblick" kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl. Und ergib dich drein, wenn sie ihn getragen bringen."
Der Geselle war von ihm geschieden. Seine Schritte verklangen schon in der Ferne. Fritz Nettenmair stand noch und sah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen der Geselle verschwunden war. Sie hingen wagrecht über den Wiesen an der Straße wie ein ausgebreitet Tuch. Sie stiegen empor und verdichteten sich zu selt¬ samen Gestalten, sie kräuselten sich, flossen auseinander und sanken wieder nieder, sie bäumten wieder auf. Sie hingen sich in das Gezweig der Weiden am Weg, und wie sie diese bald verhüllten, bald frei ließen, schien es ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerflossen die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben, ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war ein Bild dessen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬ ging, ein so ähnlich Bild, daß er nicht wußte, sah er aus sich heraus oder in sich hinein. Da war ein nebel¬
„Und was ich ſagen wollte: ihr werdet bald Trauer haben. Ich hab' ihn neulich geſehn.“ Er brauchte keinen Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er meinte. „Es gibt Leute, die mehr ſehn, als Andere,“ fuhr der Geſelle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬ decker anſehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß, daß ſie ihn getragen bringen und ſehn ihn daliegen, nur er ſelber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergeſell hat mir das Geheimniß geſagt, wie man zu dem „Frohn¬ weißblick“ kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl. Und ergib dich drein, wenn ſie ihn getragen bringen.“
Der Geſelle war von ihm geſchieden. Seine Schritte verklangen ſchon in der Ferne. Fritz Nettenmair ſtand noch und ſah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen der Geſelle verſchwunden war. Sie hingen wagrecht über den Wieſen an der Straße wie ein ausgebreitet Tuch. Sie ſtiegen empor und verdichteten ſich zu ſelt¬ ſamen Geſtalten, ſie kräuſelten ſich, floſſen auseinander und ſanken wieder nieder, ſie bäumten wieder auf. Sie hingen ſich in das Gezweig der Weiden am Weg, und wie ſie dieſe bald verhüllten, bald frei ließen, ſchien es ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerfloſſen die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben, ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war ein Bild deſſen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬ ging, ein ſo ähnlich Bild, daß er nicht wußte, ſah er aus ſich heraus oder in ſich hinein. Da war ein nebel¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0165"n="156"/>„Und was ich ſagen wollte: ihr werdet bald Trauer<lb/>
haben. Ich hab' ihn neulich geſehn.“ Er brauchte keinen<lb/>
Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er<lb/>
meinte. „Es gibt Leute, die mehr ſehn, als Andere,“<lb/>
fuhr der Geſelle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬<lb/>
decker anſehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß,<lb/>
daß ſie ihn getragen bringen und ſehn ihn daliegen,<lb/>
nur er ſelber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergeſell<lb/>
hat mir das Geheimniß geſagt, wie man zu dem „Frohn¬<lb/>
weißblick“ kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl.<lb/>
Und ergib dich drein, wenn ſie ihn getragen bringen.“</p><lb/><p>Der Geſelle war von ihm geſchieden. Seine Schritte<lb/>
verklangen ſchon in der Ferne. Fritz Nettenmair ſtand<lb/>
noch und ſah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen<lb/>
der Geſelle verſchwunden war. Sie hingen wagrecht<lb/>
über den Wieſen an der Straße wie ein ausgebreitet<lb/>
Tuch. Sie ſtiegen empor und verdichteten ſich zu ſelt¬<lb/>ſamen Geſtalten, ſie kräuſelten ſich, floſſen auseinander<lb/>
und ſanken wieder nieder, ſie bäumten wieder auf. Sie<lb/>
hingen ſich in das Gezweig der Weiden am Weg, und<lb/>
wie ſie dieſe bald verhüllten, bald frei ließen, ſchien es<lb/>
ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerfloſſen<lb/>
die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben,<lb/>
ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war<lb/>
ein Bild deſſen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬<lb/>
ging, ein ſo ähnlich Bild, daß er nicht wußte, ſah er<lb/>
aus ſich heraus oder in ſich hinein. Da war ein nebel¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[156/0165]
„Und was ich ſagen wollte: ihr werdet bald Trauer
haben. Ich hab' ihn neulich geſehn.“ Er brauchte keinen
Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er
meinte. „Es gibt Leute, die mehr ſehn, als Andere,“
fuhr der Geſelle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬
decker anſehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß,
daß ſie ihn getragen bringen und ſehn ihn daliegen,
nur er ſelber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergeſell
hat mir das Geheimniß geſagt, wie man zu dem „Frohn¬
weißblick“ kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl.
Und ergib dich drein, wenn ſie ihn getragen bringen.“
Der Geſelle war von ihm geſchieden. Seine Schritte
verklangen ſchon in der Ferne. Fritz Nettenmair ſtand
noch und ſah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen
der Geſelle verſchwunden war. Sie hingen wagrecht
über den Wieſen an der Straße wie ein ausgebreitet
Tuch. Sie ſtiegen empor und verdichteten ſich zu ſelt¬
ſamen Geſtalten, ſie kräuſelten ſich, floſſen auseinander
und ſanken wieder nieder, ſie bäumten wieder auf. Sie
hingen ſich in das Gezweig der Weiden am Weg, und
wie ſie dieſe bald verhüllten, bald frei ließen, ſchien es
ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerfloſſen
die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben,
ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war
ein Bild deſſen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬
ging, ein ſo ähnlich Bild, daß er nicht wußte, ſah er
aus ſich heraus oder in ſich hinein. Da war ein nebel¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/165>, abgerufen am 12.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.