zu besinnen. -- Was hilft's daß sie's dem Kinde verbot? all' ihre Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie meinte, sie wich ihm aus, und sie sieht, er flieht sie. Sie sollte sich freun, und es thut ihr weh. Ihre Wangen brennen wieder. Eigen ist's, daß sie selbst ihren Zustand strenger oder milder ansieht, je nachdem sie in Gedanken Apollonius strenger oder milder darüber urtheilend glaubt. So ist er ihr das unwillkührliche Maas der Dinge geworden. Weiß er, wie sie ist, und verachtet sie? Er ist so mild und nachsichtig; er hat die Anne nicht verspottet, nicht verachtet; er hat ihr das Wort geredet gegen fremde Verachtung und Spott. Hat sie schon, eh' er kam, Gedanken gehabt, die sie nicht haben sollte, und er hat sie errathen? Ist sie sich doch, als wär' sie mit Allem, was sie weiß und wünscht, nur ein Gedanke in ihm, den er weiß, wie seine andern. Und sie hat ihn gedauert; und darum sah er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn sie ging? Ja! Gewiß! Und nun floh er sie aus Schonung; sein Anblick sollte nicht Gedanken in ihr wecken, die besser geschlafen hätten, bis sie selber schlief im Sarg. Er vielleicht selbst hatte es ihrem Manne gesagt oder geschrieben; und dieser hatte das Mittel gewählt, sie durch Widerwillen zu heilen.
War's Zufall, daß sie in diesem Augenblicke nach ihres Mannes Schreibpult blickte? Sie sah, er hatte den Schlüssel abzuziehn vergessen. Sie erinnerte sich, er
zu beſinnen. — Was hilft's daß ſie's dem Kinde verbot? all' ihre Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie meinte, ſie wich ihm aus, und ſie ſieht, er flieht ſie. Sie ſollte ſich freun, und es thut ihr weh. Ihre Wangen brennen wieder. Eigen iſt's, daß ſie ſelbſt ihren Zuſtand ſtrenger oder milder anſieht, je nachdem ſie in Gedanken Apollonius ſtrenger oder milder darüber urtheilend glaubt. So iſt er ihr das unwillkührliche Maas der Dinge geworden. Weiß er, wie ſie iſt, und verachtet ſie? Er iſt ſo mild und nachſichtig; er hat die Anne nicht verſpottet, nicht verachtet; er hat ihr das Wort geredet gegen fremde Verachtung und Spott. Hat ſie ſchon, eh' er kam, Gedanken gehabt, die ſie nicht haben ſollte, und er hat ſie errathen? Iſt ſie ſich doch, als wär' ſie mit Allem, was ſie weiß und wünſcht, nur ein Gedanke in ihm, den er weiß, wie ſeine andern. Und ſie hat ihn gedauert; und darum ſah er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn ſie ging? Ja! Gewiß! Und nun floh er ſie aus Schonung; ſein Anblick ſollte nicht Gedanken in ihr wecken, die beſſer geſchlafen hätten, bis ſie ſelber ſchlief im Sarg. Er vielleicht ſelbſt hatte es ihrem Manne geſagt oder geſchrieben; und dieſer hatte das Mittel gewählt, ſie durch Widerwillen zu heilen.
War's Zufall, daß ſie in dieſem Augenblicke nach ihres Mannes Schreibpult blickte? Sie ſah, er hatte den Schlüſſel abzuziehn vergeſſen. Sie erinnerte ſich, er
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zu beſinnen. — Was hilft's daß ſie's dem Kinde verbot?
all' ihre Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie
meinte, ſie wich ihm aus, und ſie ſieht, er flieht ſie.
Sie ſollte ſich freun, und es thut ihr weh. Ihre
Wangen brennen wieder. Eigen iſt's, daß ſie ſelbſt
ihren Zuſtand ſtrenger oder milder anſieht, je nachdem
ſie in Gedanken Apollonius ſtrenger oder milder darüber
urtheilend glaubt. So iſt er ihr das unwillkührliche
Maas der Dinge geworden. Weiß er, wie ſie iſt, und
verachtet ſie? Er iſt ſo mild und nachſichtig; er hat
die Anne nicht verſpottet, nicht verachtet; er hat ihr
das Wort geredet gegen fremde Verachtung und Spott.
Hat ſie ſchon, eh' er kam, Gedanken gehabt, die ſie
nicht haben ſollte, und er hat ſie errathen? Iſt ſie
ſich doch, als wär' ſie mit Allem, was ſie weiß und
wünſcht, nur ein Gedanke in ihm, den er weiß, wie
ſeine andern. Und ſie hat ihn gedauert; und darum
ſah er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn ſie ging?
Ja! Gewiß! Und nun floh er ſie aus Schonung;
ſein Anblick ſollte nicht Gedanken in ihr wecken, die
beſſer geſchlafen hätten, bis ſie ſelber ſchlief im Sarg.
Er vielleicht ſelbſt hatte es ihrem Manne geſagt oder
geſchrieben; und dieſer hatte das Mittel gewählt, ſie
durch Widerwillen zu heilen.
War's Zufall, daß ſie in dieſem Augenblicke nach ihres
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/131>, abgerufen am 24.11.2024.
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