Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.lichen Ortes, wo sie sich befand. Grausen faßte sie, jedes Haar auf ihrem Scheitel hob sich langsam, langsam in die Höhe, ein kalter Schauer lief durch ihre Glieder. Es war seine Stimme gewesen, geisterähnlich, dumpf -- hatte er sie gerufen? war er -- todt? "Und droben am Tage Vom jüngsten Gericht" -- Ein Stoß erfolgte und ein Krachen, so gewaltig, als ob Erd' und Himmel auf einander stießen, und als zu gleicher Zeit ein Blitz die Stube unter Feuer setzte, da stierte das bebende Weib mit weit aufgerissenen Augen nach der Kammerthüre hin, auf deren Schwelle noch so eben eine Gestalt gestanden hatte -- undeutlich, geisterhaft in dem blauen Lichte, zerfließend und verschwimmend in der Dunkelheit des Nebenraumes. Sie hatte sie erkannt: es war sein Geist. Das Entsetzen trieb sie an die Thüre. Sie wußte nicht mehr, was sie wollte -- hinaus! ihn suchen, mit ihm untergehen! Ihre Gedanken verwirrten sich, alle Kraft hatte sie verlassen, und ihre Hände zitterten so heftig, daß sie nicht im Stande waren, die Thüre einzustoßen, die der Wind ins Schloß geworfen hatte. Dann eilte sie zum Fenster; sie riß es auf mit ihrer letzten Kraftanstrengung, um im gleichen Augenblicke wieder jäh zurückzutaumeln, während Sturm und Regen in die Hütte peitschten. Sie hatte in ein weites, offenes Feuerthor, geblickt, die Rose-Marie; sie hatte den Blitzstrahl sich aus seiner Mitte lösen, in scharfen Zickzacklinien niederzüngeln und sich sein Opfer suchen sehen -- das war das Letzte, was sie sah. Ein Donnerschlag, der lichen Ortes, wo sie sich befand. Grausen faßte sie, jedes Haar auf ihrem Scheitel hob sich langsam, langsam in die Höhe, ein kalter Schauer lief durch ihre Glieder. Es war seine Stimme gewesen, geisterähnlich, dumpf — hatte er sie gerufen? war er — todt? „Und droben am Tage Vom jüngsten Gericht“ — Ein Stoß erfolgte und ein Krachen, so gewaltig, als ob Erd' und Himmel auf einander stießen, und als zu gleicher Zeit ein Blitz die Stube unter Feuer setzte, da stierte das bebende Weib mit weit aufgerissenen Augen nach der Kammerthüre hin, auf deren Schwelle noch so eben eine Gestalt gestanden hatte — undeutlich, geisterhaft in dem blauen Lichte, zerfließend und verschwimmend in der Dunkelheit des Nebenraumes. Sie hatte sie erkannt: es war sein Geist. Das Entsetzen trieb sie an die Thüre. Sie wußte nicht mehr, was sie wollte — hinaus! ihn suchen, mit ihm untergehen! Ihre Gedanken verwirrten sich, alle Kraft hatte sie verlassen, und ihre Hände zitterten so heftig, daß sie nicht im Stande waren, die Thüre einzustoßen, die der Wind ins Schloß geworfen hatte. Dann eilte sie zum Fenster; sie riß es auf mit ihrer letzten Kraftanstrengung, um im gleichen Augenblicke wieder jäh zurückzutaumeln, während Sturm und Regen in die Hütte peitschten. Sie hatte in ein weites, offenes Feuerthor, geblickt, die Rose-Marie; sie hatte den Blitzstrahl sich aus seiner Mitte lösen, in scharfen Zickzacklinien niederzüngeln und sich sein Opfer suchen sehen — das war das Letzte, was sie sah. Ein Donnerschlag, der <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0045"/> lichen Ortes, wo sie sich befand. Grausen faßte sie, jedes Haar auf ihrem Scheitel hob sich langsam, langsam in die Höhe, ein kalter Schauer lief durch ihre Glieder. Es war seine Stimme gewesen, geisterähnlich, dumpf — hatte er sie gerufen? war er — todt?</p><lb/> <lg> <l>„Und droben am Tage</l> <l>Vom jüngsten Gericht“ —</l> </lg> <p>Ein Stoß erfolgte und ein Krachen, so gewaltig, als ob Erd' und Himmel auf einander stießen, und als zu gleicher Zeit ein Blitz die Stube unter Feuer setzte, da stierte das bebende Weib mit weit aufgerissenen Augen nach der Kammerthüre hin, auf deren Schwelle noch so eben eine Gestalt gestanden hatte — undeutlich, geisterhaft in dem blauen Lichte, zerfließend und verschwimmend in der Dunkelheit des Nebenraumes. Sie hatte sie erkannt: es war sein Geist.</p><lb/> <p>Das Entsetzen trieb sie an die Thüre. Sie wußte nicht mehr, was sie wollte — hinaus! ihn suchen, mit ihm untergehen! Ihre Gedanken verwirrten sich, alle Kraft hatte sie verlassen, und ihre Hände zitterten so heftig, daß sie nicht im Stande waren, die Thüre einzustoßen, die der Wind ins Schloß geworfen hatte. Dann eilte sie zum Fenster; sie riß es auf mit ihrer letzten Kraftanstrengung, um im gleichen Augenblicke wieder jäh zurückzutaumeln, während Sturm und Regen in die Hütte peitschten. Sie hatte in ein weites, offenes Feuerthor, geblickt, die Rose-Marie; sie hatte den Blitzstrahl sich aus seiner Mitte lösen, in scharfen Zickzacklinien niederzüngeln und sich sein Opfer suchen sehen — das war das Letzte, was sie sah. Ein Donnerschlag, der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0045]
lichen Ortes, wo sie sich befand. Grausen faßte sie, jedes Haar auf ihrem Scheitel hob sich langsam, langsam in die Höhe, ein kalter Schauer lief durch ihre Glieder. Es war seine Stimme gewesen, geisterähnlich, dumpf — hatte er sie gerufen? war er — todt?
„Und droben am Tage Vom jüngsten Gericht“ —
Ein Stoß erfolgte und ein Krachen, so gewaltig, als ob Erd' und Himmel auf einander stießen, und als zu gleicher Zeit ein Blitz die Stube unter Feuer setzte, da stierte das bebende Weib mit weit aufgerissenen Augen nach der Kammerthüre hin, auf deren Schwelle noch so eben eine Gestalt gestanden hatte — undeutlich, geisterhaft in dem blauen Lichte, zerfließend und verschwimmend in der Dunkelheit des Nebenraumes. Sie hatte sie erkannt: es war sein Geist.
Das Entsetzen trieb sie an die Thüre. Sie wußte nicht mehr, was sie wollte — hinaus! ihn suchen, mit ihm untergehen! Ihre Gedanken verwirrten sich, alle Kraft hatte sie verlassen, und ihre Hände zitterten so heftig, daß sie nicht im Stande waren, die Thüre einzustoßen, die der Wind ins Schloß geworfen hatte. Dann eilte sie zum Fenster; sie riß es auf mit ihrer letzten Kraftanstrengung, um im gleichen Augenblicke wieder jäh zurückzutaumeln, während Sturm und Regen in die Hütte peitschten. Sie hatte in ein weites, offenes Feuerthor, geblickt, die Rose-Marie; sie hatte den Blitzstrahl sich aus seiner Mitte lösen, in scharfen Zickzacklinien niederzüngeln und sich sein Opfer suchen sehen — das war das Letzte, was sie sah. Ein Donnerschlag, der
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/45>, abgerufen am 16.02.2025. |