Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sie hörte das schwerfällige Schleifen derselben in dem vor Trockenheit knisternden Heidelbeerkraut, das Pochen ihres Herzens, das Keuchen ihres Athems -- sonst keinen Laut. Eine große Schlaffheit überkam sie, die Elasticität der Glieder lös'te sich, das sonst so hoch getragene Haupt sank zur Brust herab, und die schweren Lider überdeckten halb das Auge. Es war ein Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in dem sie vorwärts schritt; die Welt lag hinter ihr, die Einsamkeit umfing sie wie ein Traum. -- Mit einemmal schien es ihr, als ob sie schon gestorben wäre -- das war so recht ein Wandeln durch die Schatten des Todes. Plötzlich fuhr sie auf, holte Athem, tief aus der Brust herauf, und strich sich mit der Hand wie besinnend über ihre Stirne. Wohin, fragte sie sich selbst, führte sie denn dieser Weg? und mit dem Blitze, welcher eben über sie dahinfuhr, durchleuchtete sie jählings der Gedanke: zum Gericht! Freilich nur zum Gerichte in der Stadt, wo Menschenkinder saßen von Fleisch und Bein in schwarzen Fracks und weißen Binden um runde oder lange Tische her; Menschen wie sie, die Acten vor sich liegen und Federn in den Händen oder hinter ihren Ohren hatten. Der Schreiber schrieb, der Actuar verlas das Protocoll, der Herr Amtmann sprach das Recht in dürren Worten und der Diener händigte den Zettel ein mit Sporteln und Gebühren. Aber nein! das war es nicht, wovor ihr bangte, ihr Sinnen verwirrte sich, und wie aus weiter, sie hörte das schwerfällige Schleifen derselben in dem vor Trockenheit knisternden Heidelbeerkraut, das Pochen ihres Herzens, das Keuchen ihres Athems — sonst keinen Laut. Eine große Schlaffheit überkam sie, die Elasticität der Glieder lös'te sich, das sonst so hoch getragene Haupt sank zur Brust herab, und die schweren Lider überdeckten halb das Auge. Es war ein Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in dem sie vorwärts schritt; die Welt lag hinter ihr, die Einsamkeit umfing sie wie ein Traum. — Mit einemmal schien es ihr, als ob sie schon gestorben wäre — das war so recht ein Wandeln durch die Schatten des Todes. Plötzlich fuhr sie auf, holte Athem, tief aus der Brust herauf, und strich sich mit der Hand wie besinnend über ihre Stirne. Wohin, fragte sie sich selbst, führte sie denn dieser Weg? und mit dem Blitze, welcher eben über sie dahinfuhr, durchleuchtete sie jählings der Gedanke: zum Gericht! Freilich nur zum Gerichte in der Stadt, wo Menschenkinder saßen von Fleisch und Bein in schwarzen Fracks und weißen Binden um runde oder lange Tische her; Menschen wie sie, die Acten vor sich liegen und Federn in den Händen oder hinter ihren Ohren hatten. Der Schreiber schrieb, der Actuar verlas das Protocoll, der Herr Amtmann sprach das Recht in dürren Worten und der Diener händigte den Zettel ein mit Sporteln und Gebühren. Aber nein! das war es nicht, wovor ihr bangte, ihr Sinnen verwirrte sich, und wie aus weiter, <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0028"/> sie hörte das schwerfällige Schleifen derselben in dem vor Trockenheit knisternden Heidelbeerkraut, das Pochen ihres Herzens, das Keuchen ihres Athems — sonst keinen Laut. Eine große Schlaffheit überkam sie, die Elasticität der Glieder lös'te sich, das sonst so hoch getragene Haupt sank zur Brust herab, und die schweren Lider überdeckten halb das Auge. Es war ein Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in dem sie vorwärts schritt; die Welt lag hinter ihr, die Einsamkeit umfing sie wie ein Traum. — Mit einemmal schien es ihr, als ob sie schon gestorben wäre — das war so recht ein Wandeln durch die Schatten des Todes. Plötzlich fuhr sie auf, holte Athem, tief aus der Brust herauf, und strich sich mit der Hand wie besinnend über ihre Stirne. Wohin, fragte sie sich selbst, führte sie denn dieser Weg? und mit dem Blitze, welcher eben über sie dahinfuhr, durchleuchtete sie jählings der Gedanke: zum Gericht!</p><lb/> <p>Freilich nur zum Gerichte in der Stadt, wo Menschenkinder saßen von Fleisch und Bein in schwarzen Fracks und weißen Binden um runde oder lange Tische her; Menschen wie sie, die Acten vor sich liegen und Federn in den Händen oder hinter ihren Ohren hatten. Der Schreiber schrieb, der Actuar verlas das Protocoll, der Herr Amtmann sprach das Recht in dürren Worten und der Diener händigte den Zettel ein mit Sporteln und Gebühren. Aber nein! das war es nicht, wovor ihr bangte, ihr Sinnen verwirrte sich, und wie aus weiter,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
sie hörte das schwerfällige Schleifen derselben in dem vor Trockenheit knisternden Heidelbeerkraut, das Pochen ihres Herzens, das Keuchen ihres Athems — sonst keinen Laut. Eine große Schlaffheit überkam sie, die Elasticität der Glieder lös'te sich, das sonst so hoch getragene Haupt sank zur Brust herab, und die schweren Lider überdeckten halb das Auge. Es war ein Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in dem sie vorwärts schritt; die Welt lag hinter ihr, die Einsamkeit umfing sie wie ein Traum. — Mit einemmal schien es ihr, als ob sie schon gestorben wäre — das war so recht ein Wandeln durch die Schatten des Todes. Plötzlich fuhr sie auf, holte Athem, tief aus der Brust herauf, und strich sich mit der Hand wie besinnend über ihre Stirne. Wohin, fragte sie sich selbst, führte sie denn dieser Weg? und mit dem Blitze, welcher eben über sie dahinfuhr, durchleuchtete sie jählings der Gedanke: zum Gericht!
Freilich nur zum Gerichte in der Stadt, wo Menschenkinder saßen von Fleisch und Bein in schwarzen Fracks und weißen Binden um runde oder lange Tische her; Menschen wie sie, die Acten vor sich liegen und Federn in den Händen oder hinter ihren Ohren hatten. Der Schreiber schrieb, der Actuar verlas das Protocoll, der Herr Amtmann sprach das Recht in dürren Worten und der Diener händigte den Zettel ein mit Sporteln und Gebühren. Aber nein! das war es nicht, wovor ihr bangte, ihr Sinnen verwirrte sich, und wie aus weiter,
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/28>, abgerufen am 16.02.2025. |