Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.um so fester auf, je näher sie die bekannten Schritte hinter sich vernahm. Sie wandte sich nicht um, sie zögerte so wenig, als sie sich beeilte, und sie besann sich keinen Augenblick, statt der weiter hinauf liegenden bequemen Brücke den ersten besten aus Baumstämmen gebildeten Steg zu betreten, der über den tiefen Mühlbach hinüber auf den Fahrweg lenkte. Das Wasser schoß und rauschte unter ihr dahin; die schwanke Brücke bog sich unter ihrer und bald darauf auch unter einer zweiten Last. Ohne zu zittern, hörte sie einen schweren, nägelbeschlagenen Schuh hart hinter sich geräuschvoll auf das Holz aufsetzen, und selbst als sie, sich dem Ende des schmalen, schlüpfrigen Weges nähernd, die Nähe des ihr Folgenden fast körperlich empfinden mußte, glitt ihr Fuß um keines Haares Breite seitwärts, und keine Bewegung ihres Körpers, keine Muskel ihres Gesichtes verrieth auch nur die leiseste Spur einer Gemüthsbewegung. Der junge Mann dagegen, der ihr folgte, zeigte sich um so erregter, je mehr sich die Entfernung zwischen ihm und ihr verringerte. Er hatte den dunklen Filzhut, den die Bauern jener Gegend auch im Sommer tragen, abgenommen und die schwere Jacke ausgezogen, aber während er jenen in der Hand und diese über einer Schulter trug, schien er noch gleich sehr unter dem Drucke der schwülen Luft zu leiden. Sein Athem war fast hörbar, der ungleiche Schritt setzte bald aus, bald um so hastiger voran, und mehrmals fuhr er sich wie rathlos um so fester auf, je näher sie die bekannten Schritte hinter sich vernahm. Sie wandte sich nicht um, sie zögerte so wenig, als sie sich beeilte, und sie besann sich keinen Augenblick, statt der weiter hinauf liegenden bequemen Brücke den ersten besten aus Baumstämmen gebildeten Steg zu betreten, der über den tiefen Mühlbach hinüber auf den Fahrweg lenkte. Das Wasser schoß und rauschte unter ihr dahin; die schwanke Brücke bog sich unter ihrer und bald darauf auch unter einer zweiten Last. Ohne zu zittern, hörte sie einen schweren, nägelbeschlagenen Schuh hart hinter sich geräuschvoll auf das Holz aufsetzen, und selbst als sie, sich dem Ende des schmalen, schlüpfrigen Weges nähernd, die Nähe des ihr Folgenden fast körperlich empfinden mußte, glitt ihr Fuß um keines Haares Breite seitwärts, und keine Bewegung ihres Körpers, keine Muskel ihres Gesichtes verrieth auch nur die leiseste Spur einer Gemüthsbewegung. Der junge Mann dagegen, der ihr folgte, zeigte sich um so erregter, je mehr sich die Entfernung zwischen ihm und ihr verringerte. Er hatte den dunklen Filzhut, den die Bauern jener Gegend auch im Sommer tragen, abgenommen und die schwere Jacke ausgezogen, aber während er jenen in der Hand und diese über einer Schulter trug, schien er noch gleich sehr unter dem Drucke der schwülen Luft zu leiden. Sein Athem war fast hörbar, der ungleiche Schritt setzte bald aus, bald um so hastiger voran, und mehrmals fuhr er sich wie rathlos <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0012"/> um so fester auf, je näher sie die bekannten Schritte hinter sich vernahm.</p><lb/> <p>Sie wandte sich nicht um, sie zögerte so wenig, als sie sich beeilte, und sie besann sich keinen Augenblick, statt der weiter hinauf liegenden bequemen Brücke den ersten besten aus Baumstämmen gebildeten Steg zu betreten, der über den tiefen Mühlbach hinüber auf den Fahrweg lenkte. Das Wasser schoß und rauschte unter ihr dahin; die schwanke Brücke bog sich unter ihrer und bald darauf auch unter einer zweiten Last. Ohne zu zittern, hörte sie einen schweren, nägelbeschlagenen Schuh hart hinter sich geräuschvoll auf das Holz aufsetzen, und selbst als sie, sich dem Ende des schmalen, schlüpfrigen Weges nähernd, die Nähe des ihr Folgenden fast körperlich empfinden mußte, glitt ihr Fuß um keines Haares Breite seitwärts, und keine Bewegung ihres Körpers, keine Muskel ihres Gesichtes verrieth auch nur die leiseste Spur einer Gemüthsbewegung.</p><lb/> <p>Der junge Mann dagegen, der ihr folgte, zeigte sich um so erregter, je mehr sich die Entfernung zwischen ihm und ihr verringerte. Er hatte den dunklen Filzhut, den die Bauern jener Gegend auch im Sommer tragen, abgenommen und die schwere Jacke ausgezogen, aber während er jenen in der Hand und diese über einer Schulter trug, schien er noch gleich sehr unter dem Drucke der schwülen Luft zu leiden. Sein Athem war fast hörbar, der ungleiche Schritt setzte bald aus, bald um so hastiger voran, und mehrmals fuhr er sich wie rathlos<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
um so fester auf, je näher sie die bekannten Schritte hinter sich vernahm.
Sie wandte sich nicht um, sie zögerte so wenig, als sie sich beeilte, und sie besann sich keinen Augenblick, statt der weiter hinauf liegenden bequemen Brücke den ersten besten aus Baumstämmen gebildeten Steg zu betreten, der über den tiefen Mühlbach hinüber auf den Fahrweg lenkte. Das Wasser schoß und rauschte unter ihr dahin; die schwanke Brücke bog sich unter ihrer und bald darauf auch unter einer zweiten Last. Ohne zu zittern, hörte sie einen schweren, nägelbeschlagenen Schuh hart hinter sich geräuschvoll auf das Holz aufsetzen, und selbst als sie, sich dem Ende des schmalen, schlüpfrigen Weges nähernd, die Nähe des ihr Folgenden fast körperlich empfinden mußte, glitt ihr Fuß um keines Haares Breite seitwärts, und keine Bewegung ihres Körpers, keine Muskel ihres Gesichtes verrieth auch nur die leiseste Spur einer Gemüthsbewegung.
Der junge Mann dagegen, der ihr folgte, zeigte sich um so erregter, je mehr sich die Entfernung zwischen ihm und ihr verringerte. Er hatte den dunklen Filzhut, den die Bauern jener Gegend auch im Sommer tragen, abgenommen und die schwere Jacke ausgezogen, aber während er jenen in der Hand und diese über einer Schulter trug, schien er noch gleich sehr unter dem Drucke der schwülen Luft zu leiden. Sein Athem war fast hörbar, der ungleiche Schritt setzte bald aus, bald um so hastiger voran, und mehrmals fuhr er sich wie rathlos
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/12 |
Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/12>, abgerufen am 16.02.2025. |