Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.mögliche Erklärung für das unbegreifliche Verhalten der Braut in der Annahme einer Gemüthsstörung, eines Wahnsinns. Ich wurde von einem Grauen erfaßt, das von Schmerz über das Loos der Unglücklichen begleitet war, die bereits meine ganze Theilnahme gewonnen hatte. Unwillkürlich trat ich von ihr hinweg ans Fenster. Es mochte sein, daß sie mich in diesem Augenblick genau beobachtete, weil der Rest des scheidenden Tageslichtes ganz auf mich fiel, daß sie ein gewisses Entsetzen in meinen Zügen las und vielleicht sogar den traurigen Gedanken ahnte, der es veranlaßte. Denn sie trat zu mir und sagte mit dem gewinnendsten Lächeln: Ich habe so lange, so lange schon keinen Gast mehr bei mir gesehen, daß ich in Gefahr komme, meinen Verstand um allen Credit zu bringen, indem ich Sie hier im Dunkeln und ohne Erquickung verweilen lasse, statt an Ihre Erfrischung zu denken. Ich habe Sie ja als einen müden, verirrten und gewiß auch hungrigen Wanderer angetroffen. Und mit einem einladenden Wink ihr zu folgen, schritt sie der Thüre zu, durch die sie eingetreten war. Ich wollte Einwendungen machen, darauf bestehen, ins Dorf zurückzukehren, um nicht unbefugter Weise die ihr gewohnte Einsamkeit zu stören, sie aber schnitt ferneren Widerstand durch die Bemerkung ab: Es ist ja heute der 24ste December. Wollen Sie mich um eine ganz unerwartete Weihnachtsfreude wieder bringen? mögliche Erklärung für das unbegreifliche Verhalten der Braut in der Annahme einer Gemüthsstörung, eines Wahnsinns. Ich wurde von einem Grauen erfaßt, das von Schmerz über das Loos der Unglücklichen begleitet war, die bereits meine ganze Theilnahme gewonnen hatte. Unwillkürlich trat ich von ihr hinweg ans Fenster. Es mochte sein, daß sie mich in diesem Augenblick genau beobachtete, weil der Rest des scheidenden Tageslichtes ganz auf mich fiel, daß sie ein gewisses Entsetzen in meinen Zügen las und vielleicht sogar den traurigen Gedanken ahnte, der es veranlaßte. Denn sie trat zu mir und sagte mit dem gewinnendsten Lächeln: Ich habe so lange, so lange schon keinen Gast mehr bei mir gesehen, daß ich in Gefahr komme, meinen Verstand um allen Credit zu bringen, indem ich Sie hier im Dunkeln und ohne Erquickung verweilen lasse, statt an Ihre Erfrischung zu denken. Ich habe Sie ja als einen müden, verirrten und gewiß auch hungrigen Wanderer angetroffen. Und mit einem einladenden Wink ihr zu folgen, schritt sie der Thüre zu, durch die sie eingetreten war. Ich wollte Einwendungen machen, darauf bestehen, ins Dorf zurückzukehren, um nicht unbefugter Weise die ihr gewohnte Einsamkeit zu stören, sie aber schnitt ferneren Widerstand durch die Bemerkung ab: Es ist ja heute der 24ste December. Wollen Sie mich um eine ganz unerwartete Weihnachtsfreude wieder bringen? <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0034"/> mögliche Erklärung für das unbegreifliche Verhalten der Braut in der Annahme einer Gemüthsstörung, eines Wahnsinns. Ich wurde von einem Grauen erfaßt, das von Schmerz über das Loos der Unglücklichen begleitet war, die bereits meine ganze Theilnahme gewonnen hatte.</p><lb/> <p>Unwillkürlich trat ich von ihr hinweg ans Fenster. Es mochte sein, daß sie mich in diesem Augenblick genau beobachtete, weil der Rest des scheidenden Tageslichtes ganz auf mich fiel, daß sie ein gewisses Entsetzen in meinen Zügen las und vielleicht sogar den traurigen Gedanken ahnte, der es veranlaßte. Denn sie trat zu mir und sagte mit dem gewinnendsten Lächeln:</p><lb/> <p>Ich habe so lange, so lange schon keinen Gast mehr bei mir gesehen, daß ich in Gefahr komme, meinen Verstand um allen Credit zu bringen, indem ich Sie hier im Dunkeln und ohne Erquickung verweilen lasse, statt an Ihre Erfrischung zu denken. Ich habe Sie ja als einen müden, verirrten und gewiß auch hungrigen Wanderer angetroffen.</p><lb/> <p>Und mit einem einladenden Wink ihr zu folgen, schritt sie der Thüre zu, durch die sie eingetreten war. Ich wollte Einwendungen machen, darauf bestehen, ins Dorf zurückzukehren, um nicht unbefugter Weise die ihr gewohnte Einsamkeit zu stören, sie aber schnitt ferneren Widerstand durch die Bemerkung ab:</p><lb/> <p>Es ist ja heute der 24ste December. Wollen Sie mich um eine ganz unerwartete Weihnachtsfreude wieder bringen?</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
mögliche Erklärung für das unbegreifliche Verhalten der Braut in der Annahme einer Gemüthsstörung, eines Wahnsinns. Ich wurde von einem Grauen erfaßt, das von Schmerz über das Loos der Unglücklichen begleitet war, die bereits meine ganze Theilnahme gewonnen hatte.
Unwillkürlich trat ich von ihr hinweg ans Fenster. Es mochte sein, daß sie mich in diesem Augenblick genau beobachtete, weil der Rest des scheidenden Tageslichtes ganz auf mich fiel, daß sie ein gewisses Entsetzen in meinen Zügen las und vielleicht sogar den traurigen Gedanken ahnte, der es veranlaßte. Denn sie trat zu mir und sagte mit dem gewinnendsten Lächeln:
Ich habe so lange, so lange schon keinen Gast mehr bei mir gesehen, daß ich in Gefahr komme, meinen Verstand um allen Credit zu bringen, indem ich Sie hier im Dunkeln und ohne Erquickung verweilen lasse, statt an Ihre Erfrischung zu denken. Ich habe Sie ja als einen müden, verirrten und gewiß auch hungrigen Wanderer angetroffen.
Und mit einem einladenden Wink ihr zu folgen, schritt sie der Thüre zu, durch die sie eingetreten war. Ich wollte Einwendungen machen, darauf bestehen, ins Dorf zurückzukehren, um nicht unbefugter Weise die ihr gewohnte Einsamkeit zu stören, sie aber schnitt ferneren Widerstand durch die Bemerkung ab:
Es ist ja heute der 24ste December. Wollen Sie mich um eine ganz unerwartete Weihnachtsfreude wieder bringen?
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Zitationshilfe: | Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/34>, abgerufen am 16.02.2025. |