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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 3. Stuttgart, 1836.

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Ebbe u. Fluth d. Meeres und d. Atmosphäre d. Erde.
Kräfte, welche diese Phänomene erzeugen, sind auch zugleich die
Ursache jenes periodischen, und selbst den gleichgültigsten Zuschauer
ergreifenden Auf- und Niederwogens des Weltmeeres, in welchem
die Natur, die sonst ihre Geheimnisse der allgemeinen Schwere so
sorgfältig vor unsern Blicken zu verbergen scheint, uns dieselben
mit großen unverkennbaren und selbst den rohesten Wilden ver-
ständlichen Charakteren geoffenbart hat.

§. 107. (Erscheinung der Ebbe und Fluth im Allgemeinen.)
Zweimal an jedem Tage erheben und senken sich die Gewässer
des Oceans in immer wieder kommender regelmäßiger Folge.
Die ersten sechs Stunden des Tages sind sie im Steigen begrif-
fen; sie überschwemmen ihre flachen Gestade, suchen die steilen
Küsten zu erstürmen, und dringen in die Mündungen der Flüsse
ein, um sie meilenweit vor ihren Ufern anzuschwellen. Dieß ist
die Zeit der Fluth (flux). Wenn das Wasser seine größte Höhe
erreicht hat, verweilt es daselbst als Hochmeer (la haute mer).
Bald darauf sinkt es eben so regelmäßig wieder zu seiner ersten
Tiefe herab, die Zeit der Ebbe (reflux) die ebenfalls nahe sechs
Stunden dauert, bis es seine größte Tiefe (basse mer) erreicht
hat, wo es einige Zeit verweilt, um dann wieder zu seiner frü-
heren Höhe zu steigen, und in derselben Ordnung dieselben
Veränderungen regelmäßig zu durchlaufen.

Diese Bewegungen des Weltmeeres werden allerdings durch
die Wirkung der Winde vermehrt, aber sie entspringen nicht aus
ihnen, da man die Ebbe und Fluth auch bei dem stillsten Wetter
und dem reinsten Himmel immer in derselben Ordnung abwechseln
sieht. Diese Ordnung ist so groß, daß man die verschiedenen Mo-
mente dieser Erscheinungen für verschiedene Orte selbst auf ganze
Jahre mit derselben Sicherheit voraussagen kann, mit welcher die
Astronomen die Finsternisse der Sonne und des Mondes be-
stimmen.

§. 108. (Perioden der Ebbe und Fluth.) Diese Regel-
mäßigkeit des Phänomens setzt eine eben so regelmäßige und
dauernde Ursache voraus, welche jene Wirkungen hervorbringt.
Um diese Ursache zu entdecken, muß man diese Erscheinun-
gen selbst durch eine längere Zeit aufmerksam beobachten, und
vor allem die Perioden bestimmen, in welchem sie wiederkehren.

Ebbe u. Fluth d. Meeres und d. Atmoſphäre d. Erde.
Kräfte, welche dieſe Phänomene erzeugen, ſind auch zugleich die
Urſache jenes periodiſchen, und ſelbſt den gleichgültigſten Zuſchauer
ergreifenden Auf- und Niederwogens des Weltmeeres, in welchem
die Natur, die ſonſt ihre Geheimniſſe der allgemeinen Schwere ſo
ſorgfältig vor unſern Blicken zu verbergen ſcheint, uns dieſelben
mit großen unverkennbaren und ſelbſt den roheſten Wilden ver-
ſtändlichen Charakteren geoffenbart hat.

§. 107. (Erſcheinung der Ebbe und Fluth im Allgemeinen.)
Zweimal an jedem Tage erheben und ſenken ſich die Gewäſſer
des Oceans in immer wieder kommender regelmäßiger Folge.
Die erſten ſechs Stunden des Tages ſind ſie im Steigen begrif-
fen; ſie überſchwemmen ihre flachen Geſtade, ſuchen die ſteilen
Küſten zu erſtürmen, und dringen in die Mündungen der Flüſſe
ein, um ſie meilenweit vor ihren Ufern anzuſchwellen. Dieß iſt
die Zeit der Fluth (flux). Wenn das Waſſer ſeine größte Höhe
erreicht hat, verweilt es daſelbſt als Hochmeer (la haute mer).
Bald darauf ſinkt es eben ſo regelmäßig wieder zu ſeiner erſten
Tiefe herab, die Zeit der Ebbe (reflux) die ebenfalls nahe ſechs
Stunden dauert, bis es ſeine größte Tiefe (basse mer) erreicht
hat, wo es einige Zeit verweilt, um dann wieder zu ſeiner frü-
heren Höhe zu ſteigen, und in derſelben Ordnung dieſelben
Veränderungen regelmäßig zu durchlaufen.

Dieſe Bewegungen des Weltmeeres werden allerdings durch
die Wirkung der Winde vermehrt, aber ſie entſpringen nicht aus
ihnen, da man die Ebbe und Fluth auch bei dem ſtillſten Wetter
und dem reinſten Himmel immer in derſelben Ordnung abwechſeln
ſieht. Dieſe Ordnung iſt ſo groß, daß man die verſchiedenen Mo-
mente dieſer Erſcheinungen für verſchiedene Orte ſelbſt auf ganze
Jahre mit derſelben Sicherheit vorausſagen kann, mit welcher die
Aſtronomen die Finſterniſſe der Sonne und des Mondes be-
ſtimmen.

§. 108. (Perioden der Ebbe und Fluth.) Dieſe Regel-
mäßigkeit des Phänomens ſetzt eine eben ſo regelmäßige und
dauernde Urſache voraus, welche jene Wirkungen hervorbringt.
Um dieſe Urſache zu entdecken, muß man dieſe Erſcheinun-
gen ſelbſt durch eine längere Zeit aufmerkſam beobachten, und
vor allem die Perioden beſtimmen, in welchem ſie wiederkehren.

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[155/0167] Ebbe u. Fluth d. Meeres und d. Atmoſphäre d. Erde. Kräfte, welche dieſe Phänomene erzeugen, ſind auch zugleich die Urſache jenes periodiſchen, und ſelbſt den gleichgültigſten Zuſchauer ergreifenden Auf- und Niederwogens des Weltmeeres, in welchem die Natur, die ſonſt ihre Geheimniſſe der allgemeinen Schwere ſo ſorgfältig vor unſern Blicken zu verbergen ſcheint, uns dieſelben mit großen unverkennbaren und ſelbſt den roheſten Wilden ver- ſtändlichen Charakteren geoffenbart hat. §. 107. (Erſcheinung der Ebbe und Fluth im Allgemeinen.) Zweimal an jedem Tage erheben und ſenken ſich die Gewäſſer des Oceans in immer wieder kommender regelmäßiger Folge. Die erſten ſechs Stunden des Tages ſind ſie im Steigen begrif- fen; ſie überſchwemmen ihre flachen Geſtade, ſuchen die ſteilen Küſten zu erſtürmen, und dringen in die Mündungen der Flüſſe ein, um ſie meilenweit vor ihren Ufern anzuſchwellen. Dieß iſt die Zeit der Fluth (flux). Wenn das Waſſer ſeine größte Höhe erreicht hat, verweilt es daſelbſt als Hochmeer (la haute mer). Bald darauf ſinkt es eben ſo regelmäßig wieder zu ſeiner erſten Tiefe herab, die Zeit der Ebbe (reflux) die ebenfalls nahe ſechs Stunden dauert, bis es ſeine größte Tiefe (basse mer) erreicht hat, wo es einige Zeit verweilt, um dann wieder zu ſeiner frü- heren Höhe zu ſteigen, und in derſelben Ordnung dieſelben Veränderungen regelmäßig zu durchlaufen. Dieſe Bewegungen des Weltmeeres werden allerdings durch die Wirkung der Winde vermehrt, aber ſie entſpringen nicht aus ihnen, da man die Ebbe und Fluth auch bei dem ſtillſten Wetter und dem reinſten Himmel immer in derſelben Ordnung abwechſeln ſieht. Dieſe Ordnung iſt ſo groß, daß man die verſchiedenen Mo- mente dieſer Erſcheinungen für verſchiedene Orte ſelbſt auf ganze Jahre mit derſelben Sicherheit vorausſagen kann, mit welcher die Aſtronomen die Finſterniſſe der Sonne und des Mondes be- ſtimmen. §. 108. (Perioden der Ebbe und Fluth.) Dieſe Regel- mäßigkeit des Phänomens ſetzt eine eben ſo regelmäßige und dauernde Urſache voraus, welche jene Wirkungen hervorbringt. Um dieſe Urſache zu entdecken, muß man dieſe Erſcheinun- gen ſelbſt durch eine längere Zeit aufmerkſam beobachten, und vor allem die Perioden beſtimmen, in welchem ſie wiederkehren.

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Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 3. Stuttgart, 1836, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem03_1836/167>, abgerufen am 28.11.2024.