schien, und dessenungeachtet, wie wir gesehen haben, eine ganz an- dere Gestalt hat.
Wir müssen daher, ehe wir weiter gehen, zusehen, ob sich von derselben Erscheinung, von der täglichen Bewegung der Ge- stirne um die Erde, nicht noch eine andere Erklärung, eine andere Hypothese, aufstellen lasse, die vielleicht die Sache eben so genau darstellt wie jene. Wenn wir eine solche finden sollten, so wird es darauf ankommen, die inneren Gründe beider Hypothesen ab- zuwägen, und dadurch vielleicht zu entscheiden, welche von ihnen auf der Seite der Wahrheit liegt.
§. 14. (Tägliche Rotation der Erde.) Wir haben bisher an- genommen, der Himmel drehe sich täglich von Ost gegen West um die in seinem Mittelpunkte ruhende Erde. Wie aber, wenn wir den Himmel in Ruhe lassen, und dafür die Erde, aber in entgegengesetzter Richtung, in Bewegung setzen? wenn wir anneh- men wollten, die Erde drehe sich täglich von West gegen Ost um die durch ihren Mittelpunkt gehende Axe, während der sie ringsum concentrisch umgebende Himmel in völliger Ruhe bleibt?
§. 15. (Erklärung jener Erscheinungen durch die Rotation der Erde.) So sonderbar diese Meinung auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so kann man doch nicht läugnen, daß durch sie jene Erscheinung ganz eben so gut und vollständig erklärt wird, als durch die vorhergehende. Die Sterne, so sagten wir, und so scheint es uns in der That, steigen bei ihrem Aufgange an der Ostseite des Himmels, über unserem festen Horizont herauf und nähern sich demselben wieder bei ihrem Untergange auf der West- seite, wo sie immer tiefer fallen und endlich ganz verschwinden. -- Allein diese ganze Erscheinung, mit allen den sie begleitenden und oben bereits erwähnten Umständen, wird auch eben so gut Statt haben, wenn die Sterne des Himmels alle ruhig stehen bleiben, und wenn dafür die Erde in einer entgegengesetzten Richtung, oder von West gen Ost, sich um ihre Axe dreht. Dann wird nämlich auch der Beobachter, wenn er sonst seinen Ort auf der Erde nicht ändert, sich mit derselben nach Osten bewegen, und da der Hori- zont (8) eines jeden Beobachters immer durch den Fußpunkt desselben geht, so wird auch dieser Horizont, der in der ersten Hypothese fest war, jetzt beweglich seyn, und sich mit dem
Tägliche Bewegung der Erde.
ſchien, und deſſenungeachtet, wie wir geſehen haben, eine ganz an- dere Geſtalt hat.
Wir müſſen daher, ehe wir weiter gehen, zuſehen, ob ſich von derſelben Erſcheinung, von der täglichen Bewegung der Ge- ſtirne um die Erde, nicht noch eine andere Erklärung, eine andere Hypotheſe, aufſtellen laſſe, die vielleicht die Sache eben ſo genau darſtellt wie jene. Wenn wir eine ſolche finden ſollten, ſo wird es darauf ankommen, die inneren Gründe beider Hypotheſen ab- zuwägen, und dadurch vielleicht zu entſcheiden, welche von ihnen auf der Seite der Wahrheit liegt.
§. 14. (Tägliche Rotation der Erde.) Wir haben bisher an- genommen, der Himmel drehe ſich täglich von Oſt gegen Weſt um die in ſeinem Mittelpunkte ruhende Erde. Wie aber, wenn wir den Himmel in Ruhe laſſen, und dafür die Erde, aber in entgegengeſetzter Richtung, in Bewegung ſetzen? wenn wir anneh- men wollten, die Erde drehe ſich täglich von Weſt gegen Oſt um die durch ihren Mittelpunkt gehende Axe, während der ſie ringsum concentriſch umgebende Himmel in völliger Ruhe bleibt?
§. 15. (Erklärung jener Erſcheinungen durch die Rotation der Erde.) So ſonderbar dieſe Meinung auch auf den erſten Blick erſcheinen mag, ſo kann man doch nicht läugnen, daß durch ſie jene Erſcheinung ganz eben ſo gut und vollſtändig erklärt wird, als durch die vorhergehende. Die Sterne, ſo ſagten wir, und ſo ſcheint es uns in der That, ſteigen bei ihrem Aufgange an der Oſtſeite des Himmels, über unſerem feſten Horizont herauf und nähern ſich demſelben wieder bei ihrem Untergange auf der Weſt- ſeite, wo ſie immer tiefer fallen und endlich ganz verſchwinden. — Allein dieſe ganze Erſcheinung, mit allen den ſie begleitenden und oben bereits erwähnten Umſtänden, wird auch eben ſo gut Statt haben, wenn die Sterne des Himmels alle ruhig ſtehen bleiben, und wenn dafür die Erde in einer entgegengeſetzten Richtung, oder von Weſt gen Oſt, ſich um ihre Axe dreht. Dann wird nämlich auch der Beobachter, wenn er ſonſt ſeinen Ort auf der Erde nicht ändert, ſich mit derſelben nach Oſten bewegen, und da der Hori- zont (8) eines jeden Beobachters immer durch den Fußpunkt deſſelben geht, ſo wird auch dieſer Horizont, der in der erſten Hypotheſe feſt war, jetzt beweglich ſeyn, und ſich mit dem
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Tägliche Bewegung der Erde.
ſchien, und deſſenungeachtet, wie wir geſehen haben, eine ganz an-
dere Geſtalt hat.
Wir müſſen daher, ehe wir weiter gehen, zuſehen, ob ſich
von derſelben Erſcheinung, von der täglichen Bewegung der Ge-
ſtirne um die Erde, nicht noch eine andere Erklärung, eine andere
Hypotheſe, aufſtellen laſſe, die vielleicht die Sache eben ſo genau
darſtellt wie jene. Wenn wir eine ſolche finden ſollten, ſo wird
es darauf ankommen, die inneren Gründe beider Hypotheſen ab-
zuwägen, und dadurch vielleicht zu entſcheiden, welche von ihnen
auf der Seite der Wahrheit liegt.
§. 14. (Tägliche Rotation der Erde.) Wir haben bisher an-
genommen, der Himmel drehe ſich täglich von Oſt gegen Weſt
um die in ſeinem Mittelpunkte ruhende Erde. Wie aber, wenn
wir den Himmel in Ruhe laſſen, und dafür die Erde, aber in
entgegengeſetzter Richtung, in Bewegung ſetzen? wenn wir anneh-
men wollten, die Erde drehe ſich täglich von Weſt gegen Oſt um
die durch ihren Mittelpunkt gehende Axe, während der ſie ringsum
concentriſch umgebende Himmel in völliger Ruhe bleibt?
§. 15. (Erklärung jener Erſcheinungen durch die Rotation der
Erde.) So ſonderbar dieſe Meinung auch auf den erſten Blick
erſcheinen mag, ſo kann man doch nicht läugnen, daß durch ſie
jene Erſcheinung ganz eben ſo gut und vollſtändig erklärt wird,
als durch die vorhergehende. Die Sterne, ſo ſagten wir, und ſo
ſcheint es uns in der That, ſteigen bei ihrem Aufgange an der
Oſtſeite des Himmels, über unſerem feſten Horizont herauf und
nähern ſich demſelben wieder bei ihrem Untergange auf der Weſt-
ſeite, wo ſie immer tiefer fallen und endlich ganz verſchwinden. —
Allein dieſe ganze Erſcheinung, mit allen den ſie begleitenden und
oben bereits erwähnten Umſtänden, wird auch eben ſo gut Statt
haben, wenn die Sterne des Himmels alle ruhig ſtehen bleiben,
und wenn dafür die Erde in einer entgegengeſetzten Richtung, oder
von Weſt gen Oſt, ſich um ihre Axe dreht. Dann wird nämlich
auch der Beobachter, wenn er ſonſt ſeinen Ort auf der Erde nicht
ändert, ſich mit derſelben nach Oſten bewegen, und da der Hori-
zont (8) eines jeden Beobachters immer durch den Fußpunkt
deſſelben geht, ſo wird auch dieſer Horizont, der in der erſten
Hypotheſe feſt war, jetzt beweglich ſeyn, und ſich mit dem
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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/72>, abgerufen am 16.02.2025.
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