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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

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Refraction, Präcession und Nutation.
Richtung der Tangente des letzten Punktes der krummen Linie,
die er in der Atmosphäre beschreibt, oder in der Richtung der ge-
raden Linie Bs' S', also auch näher bei dem Zenithe Z, als es den
Stern ohne Refraction gesehen haben würde. So wie aber BS
die letzte Tangente jener krummen Linie ist, so ist auch die gerade
Linie Ss die erste Tangente derselben. Verlängert man diese Linie
Ss auf der anderen Seite von s, bis sie die letzte Tangente in n
und die Erde in D trifft, so ist der Winkel BnD dieser beiden
Tangenten die eigentliche Ablenkung des Strahls, die durch die
Refraction hervorgebracht wird, oder dieser Winkel BnD ist die
gesuchte Refraction oder die Strahlenbrechung des Sterns S für die
scheinbare Zenithdistanz ZBS, in welcher ihm der Beobachter in B sieht.

§. 185. (Bestimmung der Größe der Refraction.) Es ist nun
Sache der Geometrie, die Größe dieses Winkels BnD oder die
Refraction der Gestirne für jede scheinbare Zenithdistanz ZBS' zu
bestimmen. Man sieht von selbst, daß diese Bestimmung durch
das ganze Gebiet der praktischen Astronomie von der größten
Wichtigkeit ist, da sie alle unsere Beobachtungen ohne Ausnahme
afficirt, und da wir durchaus von keinem Himmelskörper den
wahren Ort angeben können, den er im Weltraume einnimmt,
wenn wir ihn nicht zuerst von dieser optischen Täuschung befreit
haben, durch welche wir alle diese Körper höher über dem Hori-
zonte sehen, als sie es in der That sind.

Unglücklicher Weise ist aber diese Aufgabe sehr schwer mit
vollkommener Schärfe zu lösen. Wir haben bereits oben (§. 162)
gesagt, daß die Dichte der Luft, die, nach Marrotti's Gesetz, in
jedem Punkte derselben dem Drucke der oberen Schichten propor-
tional ist, durch die in den höheren Gegenden der Atmosphäre
herrschende Kälte wieder vergrößert wird. Man nimmt gewöhn-
lich an, daß für jede Erhöhung von nahe 670 Par. Fuß über die
Oberfläche der Erde die Temperatur der Atmosphäre um einen
Grad Reaum. abnimmt. Allein diese Annahme ist keineswegs
hinlänglich begründet. Unsere größten Berge und selbst unsere
höchsten Luftfahrten sind noch viel zu gering, um von ihnen eine
sichere Belehrung über die Constitution der höchsten Luftschichten
hoffen zu können. Mit einem Worte, das Gesetz, nach welchem
sich die Kälte in den höheren Gegenden und also auch die Dichte

Refraction, Präceſſion und Nutation.
Richtung der Tangente des letzten Punktes der krummen Linie,
die er in der Atmoſphäre beſchreibt, oder in der Richtung der ge-
raden Linie Bs' S', alſo auch näher bei dem Zenithe Z, als es den
Stern ohne Refraction geſehen haben würde. So wie aber BS
die letzte Tangente jener krummen Linie iſt, ſo iſt auch die gerade
Linie Ss die erſte Tangente derſelben. Verlängert man dieſe Linie
Ss auf der anderen Seite von s, bis ſie die letzte Tangente in n
und die Erde in D trifft, ſo iſt der Winkel BnD dieſer beiden
Tangenten die eigentliche Ablenkung des Strahls, die durch die
Refraction hervorgebracht wird, oder dieſer Winkel BnD iſt die
geſuchte Refraction oder die Strahlenbrechung des Sterns S für die
ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS, in welcher ihm der Beobachter in B ſieht.

§. 185. (Beſtimmung der Größe der Refraction.) Es iſt nun
Sache der Geometrie, die Größe dieſes Winkels BnD oder die
Refraction der Geſtirne für jede ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS' zu
beſtimmen. Man ſieht von ſelbſt, daß dieſe Beſtimmung durch
das ganze Gebiet der praktiſchen Aſtronomie von der größten
Wichtigkeit iſt, da ſie alle unſere Beobachtungen ohne Ausnahme
afficirt, und da wir durchaus von keinem Himmelskörper den
wahren Ort angeben können, den er im Weltraume einnimmt,
wenn wir ihn nicht zuerſt von dieſer optiſchen Täuſchung befreit
haben, durch welche wir alle dieſe Körper höher über dem Hori-
zonte ſehen, als ſie es in der That ſind.

Unglücklicher Weiſe iſt aber dieſe Aufgabe ſehr ſchwer mit
vollkommener Schärfe zu löſen. Wir haben bereits oben (§. 162)
geſagt, daß die Dichte der Luft, die, nach Marrotti’s Geſetz, in
jedem Punkte derſelben dem Drucke der oberen Schichten propor-
tional iſt, durch die in den höheren Gegenden der Atmoſphäre
herrſchende Kälte wieder vergrößert wird. Man nimmt gewöhn-
lich an, daß für jede Erhöhung von nahe 670 Par. Fuß über die
Oberfläche der Erde die Temperatur der Atmoſphäre um einen
Grad Reaum. abnimmt. Allein dieſe Annahme iſt keineswegs
hinlänglich begründet. Unſere größten Berge und ſelbſt unſere
höchſten Luftfahrten ſind noch viel zu gering, um von ihnen eine
ſichere Belehrung über die Conſtitution der höchſten Luftſchichten
hoffen zu können. Mit einem Worte, das Geſetz, nach welchem
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[347/0359] Refraction, Präceſſion und Nutation. Richtung der Tangente des letzten Punktes der krummen Linie, die er in der Atmoſphäre beſchreibt, oder in der Richtung der ge- raden Linie Bs' S', alſo auch näher bei dem Zenithe Z, als es den Stern ohne Refraction geſehen haben würde. So wie aber BS die letzte Tangente jener krummen Linie iſt, ſo iſt auch die gerade Linie Ss die erſte Tangente derſelben. Verlängert man dieſe Linie Ss auf der anderen Seite von s, bis ſie die letzte Tangente in n und die Erde in D trifft, ſo iſt der Winkel BnD dieſer beiden Tangenten die eigentliche Ablenkung des Strahls, die durch die Refraction hervorgebracht wird, oder dieſer Winkel BnD iſt die geſuchte Refraction oder die Strahlenbrechung des Sterns S für die ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS, in welcher ihm der Beobachter in B ſieht. §. 185. (Beſtimmung der Größe der Refraction.) Es iſt nun Sache der Geometrie, die Größe dieſes Winkels BnD oder die Refraction der Geſtirne für jede ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS' zu beſtimmen. Man ſieht von ſelbſt, daß dieſe Beſtimmung durch das ganze Gebiet der praktiſchen Aſtronomie von der größten Wichtigkeit iſt, da ſie alle unſere Beobachtungen ohne Ausnahme afficirt, und da wir durchaus von keinem Himmelskörper den wahren Ort angeben können, den er im Weltraume einnimmt, wenn wir ihn nicht zuerſt von dieſer optiſchen Täuſchung befreit haben, durch welche wir alle dieſe Körper höher über dem Hori- zonte ſehen, als ſie es in der That ſind. Unglücklicher Weiſe iſt aber dieſe Aufgabe ſehr ſchwer mit vollkommener Schärfe zu löſen. Wir haben bereits oben (§. 162) geſagt, daß die Dichte der Luft, die, nach Marrotti’s Geſetz, in jedem Punkte derſelben dem Drucke der oberen Schichten propor- tional iſt, durch die in den höheren Gegenden der Atmoſphäre herrſchende Kälte wieder vergrößert wird. Man nimmt gewöhn- lich an, daß für jede Erhöhung von nahe 670 Par. Fuß über die Oberfläche der Erde die Temperatur der Atmoſphäre um einen Grad Reaum. abnimmt. Allein dieſe Annahme iſt keineswegs hinlänglich begründet. Unſere größten Berge und ſelbſt unſere höchſten Luftfahrten ſind noch viel zu gering, um von ihnen eine ſichere Belehrung über die Conſtitution der höchſten Luftſchichten hoffen zu können. Mit einem Worte, das Geſetz, nach welchem ſich die Kälte in den höheren Gegenden und alſo auch die Dichte

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Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/359>, abgerufen am 25.11.2024.